Auch wenn bisher insgesamt ein recht guter Konsens herrscht, muss ich doch noch einmal auf den "Freibrief" eingehen, der durch diesen Thread/Artikel und die daraus entbrannte Debatte über Rück- und Nachsicht und mehr innerartliche Kommunikation befürchtet wurde...
Dieser Fall scheint nämlich - zumindest vereinzelt - tatsächlich eingetroffen zu sein:
Innerhalb von 24 Stunden wurde hier im Forum z.B. einer Hundehalterin mit pubertärem Jungrüden regelrecht ans Herz gelegt, sich einen fremden (dem eigenen überlegenen) Hund zu suchen und den vom Jungrüden so lange provozieren zu lassen, bis der Mal so richtig eins drüber bekommt.
Damit sei dann die Welt wieder in Ordnung und Hundi würde in Zukunft Ansagen von Frauchen und Femdhunden ernst nehmen.
Und das mit direktem und ausdrücklichem Bezug auf diesen Artikel!!!
À la: "Der Rückert hat so recht, Hunde müssen endlich wieder mehr unter sich ausmachen dürfen!"
In einem anderen Fall wurde hier eine Hundehalterin regelrecht in der Luft zerrissen, weil sie als Argument für Absprachen und Abstand bei an der Leine geführten Hunden ihren kranken Welpen aufführte.
"Wie kann man denn nur so unverantwortlich sein und mit einem ansteckenden Hund nach draußen gehen? Und dann auch noch erwarten, dass alle anderen Leute ihre Hunde bei sich behalten? Wie egoistisch/narzistisch/verblendet kann man denn nur sein?!?
Und außerdem liiiiiiieeben alle Welpen es, wenn erwachsene große fremde Hunde auf sie zugerannt kommen!!!"
Da war ich dann erst einmal baff.
Was ist denn aus: "Wenn dir ein angeleinter Hund entgegen kommt, kann der alt, KRANK, ängstlich, unverträglich, läufig, im Training, etc. sein" geworden???
Ja, darüber, dass wir mit den Fehlern anderer Leute kulant umgehen sollen, haben wir hier ausführlich drüber geredet. Gehe ich auch dacord mit.
Aber damit, dass sich aus diesem "lass die anderen auch mal Fehler machen" plötzlich die ekelhafte Ansicht herausgebildet hat, dass nun die Welpenbesitzerin schuld und unverantwortlich sei, wenn sie mit ihrem angeleinten Welpen zum Pieseln über den Bürgersteig läuft und noch mit Händen und Füßen versucht, den Kontakt zu verhindern - NEIN, damit bin ich dann nicht einverstanden.
Absolut nicht.
Das schreit für mich nach Doppelmoral und vertauschten Opferrollen.
Ja, uns allen kann der Hund mal wegflitzen. Und ja, wenn der Hund an sich nett und schnell wieder eingefangen ist, muss man da kein riesen Fass aufmachen.
Aber wenn MIR MEIN Hund - wie in diesem konkreten Beispiel passiert - in einer Umgebung wegflitzt, in der er ohnehin ohne Leine nichts zu suchen hat, und sich dann bei einem angeleinten Hund ansteckt (oder eine paar Backpfeifen abholt) - dann darf ich mir da gerne mal selbst an die eigene Nase fassen, anstatt herumzujammern. Genau so, wie auch nicht der LKW Fahrer Schuld hat, wenn mir mein nicht hörender und trotzdem frei laufender Hund auf die Autobahn läuft.
Mehr als angeleint Gebiete aufzusuchen, in denen Freilauf verboten ist und dort einen Bogen um andere angeleinte Hunde zu machen, kann man eben mit einem kranken Hund auch nicht.
Und muss man vor allem auch nicht.
Mehr Toleranz im Umgang bedeutet eben nicht, dass plötzlich die eine Seite sämtliches Fehlverhalten der anderen Seite still und lächelnd tolerieren muss und diese sich auf ihren Probleme (wie z.B. unzuverlässiger Rückruf) ausruhen kann.
Und das zu erwarten, wenn die eigene Toleranz schon beim nächsten angeleinten Hund endet, ist wieder ein Paradebeispiel für Doppelmoral.
Wer also demnächst das Bedürfnis hat, "mehr Toleranz" und "Leben und Leben lassen" durch die Gegend zu rufen, darf gerne mal einen Moment innehalten und sich fragen, ob auch er bereit ist, im Gegenzug dem Gegenüber diese Freiheiten zuzusprechen - und ob die geforderte Toleranz in einigen wenigen Fällen nicht doch auch dafür genutzt wird, die eigene Ignoranz zu kaschieren und sich ganz bequem aus der Verantwortung zu ziehen.
So, das musste einfach mal raus.
Und bezieht sich ausdrücklich AUSSCHLIEßLICH auf den befürchteten Freibrief - um nicht die Hamsterräder wieder in Schwung zu bringen 😉
Ich denke wenn man den Text vom Rückert liest und WIRKLICH versteht was da geschrieben wurde, der weiß auch dass es darin nicht darum geht dass ab sofort alle Hunde alles untereinander regeln sollen. Es geht darum, dass man als Hundehalter wieder ein bisschen entspannter und toleranter sein soll (auch dem eigenen Hund zuliebe), weil Hunde nun mal keine Maschinen sind, die jeden Tag zu 100% „funktionieren“ müssen. Es sind fühlende, soziale Wesen, wo auch mal Fehler passieren können.