Beim großen Geschäft sind Hunde in einer besonders verwundbaren Situation. Die Körperhaltung macht sie unfähig zu fliehen oder sich zu verteidigen. Sie sind aufs 💩 konzentriert und können dabei die Umgebung nicht so gut im Blick haben. Angriffe, wie bei Nero, können dazu führen, dass er sich in einer verletzlichen Position nicht mehr sicher fühlt, besonders, wenn es häufiger vorkam.
Hunde haben ein Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle. Also die Sicherheit in Situationen handlungsfähig zu bleiben, Einfluss nehmen zu können, auf das was mit ihnen passiert. Es geht darum das Überleben zu sichern und sich vor starken Verletzungen zu schützen. Gerät ein Hund in Situationen, in denen dieses Bedürfnis verletzt wurde, kann es passieren, dass er sensibler und stärker auf Auslösereize reagiert, um seine eigene Handlungsfähigkeit zu erhalten (Kontrolle zurück zu erlangen) oder er geht ins Meideverhalten, in dem er entsprechende Momente, wenn sie sich eben gar nicht vermeiden lassen, so kurz wie möglich hält. Oder eben beides.
Besonders problematisch im Sinne von Bedürfnis von Kontrolle und Orientierung sind Situationen die nicht eindeutig und klar zu verstehen sind, in Neros Fall vermutlich, dass er nicht einschätzen kann, ob und wann er vor Übergriffen sicher ist oder nicht.
Stressreaktionen sind eigentlich dafür gedacht, den Körper zu aktivieren, damit er herausfordernde Situationen gut meistern kann. Empfindet ein Lebewesen die Stresssituation als gut kontrollierbar und sich selbst als handlungsfähig, kann der Stress sogar positive Auswirkungen haben und gar empfundene Selbstwirksamkeit und Resilienz fördern und die Entwicklung neuronaler Strukturen vorantreiben.
Wirken belastende und nicht kontrollierbare Stressoren immer wieder erneut auf das Lebewesen ein, kann es negative Auswirkungen haben. Werden Grundbedürfnisse sehr stark verletzt kann das tiefe Verletzungen im Nervensystem hinterlassen, die dazu führen, das auch geringe Belastungen großen Stress erzeugen. Das erschwert das Lernen von neuen Verhaltensweisen und altes Verhalten kann sogar verlernt werden.
Unkontrollierter Stress ist gegeben, wenn ein Hund nicht einschätzen kann, was als Nächstes passieren wird.
Die Art wie Nero aktuell sein Geschäft verrichtet, klingt für mich nicht danach als würde er sich in Kontrolle, Selbstwirksam oder als handlungsfähig in einer schwierigen Situation empfinden. Somit ist es vermutlich auch keine Erfahrung, die ihn wieder Sicherheit gewinnen lässt.
Als möglicher Ansatz würde mir einfallen, Unternehmungen, die Nero eigeninitiativ startet, zu unterstützen (zum Beispiel durch ruhiges Lob, welches ihn möglichst nicht aus der Tätigkeit herausreißen sollte). Besonders die, wo er sich ausreichend wohl damit fühlt, sich zunehmend der Aufgabe hinzugeben, statt die Umgebung auf mögliche Bedrohungen zu scannen. Schafft er das bei Dingen, die ihm gute Gefühle bescheren, kann er das im glücklichen Fall später ggf. für die Notdurft übertragen.
Ich würde mich bemühen zu beobachten, was ihm aktuell mehr das Gefühl von Sicherheit vermittelt und wo er sich besser lösen kann. Sind es Plätze die eher übersichtlich und gleichzeitig abgeschirmt von der Umgebung sind, in dem sie viel Sichtschutz bieten? Stellen weiter abseits von Orten, wo viel Hundeverkehr ist? Oder sind es eher Orte die viele Fluchtgelegenheiten bieten?
Meine Priorität läge wohl in erster Linie darauf, dass er sich mit der Zeit wieder zutraut die typischen Rituale rund ums Geschäft wieder zu zeigen (Drehen, schnüffeln, usw…), damit er später mit zunehmender Sicherheit auch wieder flexibler in der Wahl des Ortes werden kann.
Meiner Hündin hat es im Bezug auf andere Hunde (Leinenaggression) geholfen, ihr auftauchende Hunde verbal anzukündigen. Sie hat so verstanden, dass ich diese sowohl wahr- als auch ernstnehme und mich entsprechend meiner Möglichkeiten kümmern werde.
Ich wünsche euch viel Erfolg 🐾
Super guter Beitrag Kirsten, über den ich noch lange nachgedacht hab 🤩
Ich teile die Perspektive, die du aufmachst, zumal sie die emotionale und neurobiologische Welt mitdenkt! Wenn man das Szenario nur durch die behavioristische Brille betrachten würde – egal ob klassisch oder modern – würde die emotionale Innenwelt des Hundes eben genau nicht berücksichtigt.
Hier würde Neros Verhalten vermutlich als „unangenehme Erfahrung = konditionierte Meidereaktion“ verbucht oder halt modern behavioristisch - Verlust von Kontrolle = negative Verstärkung und Vermeidungsverhalten – aber auch hier blieb die innere Erlebniswelt weitgehend außen vor.
Nach dem kynologischen Ansatz hingegen ist Neros Verhalten keine simple Konditionierungsfrage, sondern eine nachvollziehbare Strategie zur Stressregulation eines Hundes, der in einer verletzlichen Situation wiederholt die Kontrolle verloren hat.
Hier würde ich auch zunächst kontextunabhängige, stressfreie Situationen schaffen, in denen Nero selbstbestimmt agieren und positive Erfahrungen sammeln kann – z. B. Orte mit Übersicht, Rückzugsmöglichkeiten und wenig Ablenkung –, um seine Stressregulation und das Vertrauen in eigene Handlungsfähigkeit zu stärken und dann schwierigere Kontexte wie die Wiese einbeziehen.