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Jennifer
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Anzahl der Antworten 41
zuletzt 20. Sept.

Enormer Stress beim Gassi gehen

Hallo zusammen! Bitte entschuldigt den wirklich langen Text, aber falls sich hier Menschen mit ähnlichen Problemen auseinandersetzen, würde ich mich sehr über einen Erfahrungsaustausch freuen! Unser Junghund ist ein 10 Monate alter, unkastrierter Rüde, den wir mit knapp 5 Monaten aus dem Tierschutz adoptiert haben. Über seine Vergangenheit ist nicht allzuviel bekannt, er ist aber auf einer Pflegestelle in DE geboren und war vor uns bereits vermittelt. Von dieser Familie wurde er nach 1 Monat aufgrund von Überforderung allerdings wieder zurückgebracht. Auf seiner Pflegestelle hat er mit mehreren Hunden mitten im Nirgendwo gelebt. Er ist ein recht intelligenter und eigentlich selbstbewusster Kerl, der inzwischen auch in der Pubertät angekommen ist. Jegliche Gefühle drückt er schon seitdem er bei uns ist sehr durch seine Stimme aus und deckt dabei das gesamte Spektrum von fiepsen über jaulen bis zum bellen ab. Drinnen kommt er zum Glück inzwischen meist gut zur Ruhe. Da gibt es sicher auch noch die ein oder andere Baustelle, z.B. bei Besuch, unser Hauptproblem ist aber das Spazieren gehen. Sobald es nach draußen geht, ist er enorm gestresst. Das beginnt bereits beim Anziehen, wo er jedes Stresssignal aus dem Lehrbuch zeigt. Öfter, abseits vom Gassi gehen fertig machen, um die Erwartungshaltung zu reduzieren oder das ganze in die Länge ziehen und warten bis er wieder runter fährt, führt zwar dazu, dass er sich etwas beruhigt, aber sobald er versteht, dass es raus geht, ist er von 0 auf 100. Das bedeutet konkret: er ist unfassbar hibbelig, läuft von links nach rechts oder dauerhaft um einen herum, sprintet nach vorne, bellt Bewegungsreize (Blätter, Autos etc) an oder auch einfach „grundlos“ aus allgemeiner Überforderung und pusht sich damit selber weiter hoch. Hundebegegnungen sind der Endgegner: egal aus welcher Entfernung, sobald er einen Hund als solchen ausmachen kann, rastet er komplett aus. Selbst wenn er nur die Spur eines Hundes aufnimmt, der 2 Minuten vorher an der gleichen Stelle war, stresst ihn das unfassbar. Im direkten Kontakt zeigt er sich zwar unterwürfig, aber auch sehr ungestüm und spricht „Hund“ trotz Erfahrung im Rudel nicht sonderlich gut. Wir haben bereits alles probiert, um die Spaziergänge so stressfrei wie möglich zu gestalten und langfristig mehr positive Erlebnisse für ihn zu schaffen. Darunter fällt unter anderem - keine Runden drehen, sondern einfache Strecken hin- und zurück - sehr reizarme Umgebungen wählen - immer die gleichen Wege außerhalb der Stoßzeiten laufen - Inselspaziergänge - hinsetzen und beobachten (anfangs wurde nach 10 Sekunden bereits gebellt, jetzt können wir uns mit etwas fiepsen meist schon gut länger hinsetzen) - trödeln - sich neben ihn setzen, langsam streicheln und beruhigend zureden - Dauer variieren (von 10min bis 1h haben wir schon alles ausprobiert) - Schleppleine für mehr Radius - Fokus auf uns (Click for Blick etc) - Leinentritt (drinnen die absolute Wunderwaffe, da kommt er sofort runter, draußen allerdings nur wenig effektiv) - hochnehmen in direkten Stressituationen (das beruhigt ihn sehr gut, ist aber natürlich nur ein Quick Fix) Nichts davon konnte ihm allerdings langfristig wirklich Ruhe/Sicherheit vermitteln oder den Stress reduzieren. Im städtischen Kontext mit vielen Hunden und Gerüchen ist es zwar definitiv schlechter, aber selbst auf einem leeren Feld oder im Wald nicht merklich besser als in der normalen Umgebung Zuhause. Dass er drinnen dafür recht ausgeglichen ist, grenzt, wenn man bedenkt wie lange der Abbau von Stress im Körper eigentlich dauert, wirklich an ein Wunder. Da hat er Spaß an Tricks, Dummy suchen und apportieren, Schnüffelhandtüchern, Leckmatten etc und kuschelt gerne. Auch seine Impulskontrolle ist recht gut und er kann schon gut alleine bleiben. Eine Hundeschule und ein Trainer haben uns bis jetzt nicht wirklich weitergebracht, daher sind wir gerade auf der Suche nach neuer Unterstützung, ggf auch in Richtung Verhaltenstherapie. Falls hier zufällig jemand eine gute Adresse in der Münchner Umgebung kennt, sehr gerne! Ein Tierarzttermin, um ihn allgemein nochmal durchchecken zu lassen, inkl großem Blutbild und Betrachtung der Schilddrüse, ist in den kommenden Tagen angesetzt. Auch beruhigende Mittel (CBD Öl etc) wollen wir in diesem Kontext ansprechen. Natürlich ist das Ganze sehr vielschichtig und es wird keine schnelle Lösung geben. Trotzdem würde ich mich über Erfahrungen/Anregungen von außen freuen, ich selbst bin mit meinem Latein nämlich so langsam am Ende 😅
 
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Nadine
20. Sept. 11:44
Einfach, weil ich auch gerne noch dazu lerne. Warum sind sich alle sicher,dass der Hund überfordert ist? Ich habe jetzt auch nicht rausgelesen,dass er gegenüber anderen Hunden aggressiv motiviert ist sondern ungestüm?
Ich bin mir da gar nicht sicher, darum der Hinweis mit dem Tagebuch. Sicher ist nur, dass aktuell für alle Beteiligten viel Frust im Spiel ist. Egal ob über-oder unterfordert, es muss erst mal Stress raus genommen werden. Mit einem wird er aber ziemlich sicher überfordert sein: seine Impulse bei den Reizen zu kontrollieren. Ob das daher kommt, weiß generell zu viele Reize auf ihn einprasseln oder weil er zu wenig richtige auslastung bekommt und darum überdreht, wenn irgendwas spannendes kommt, kann man aus der Ferne unmöglich sagen. Aber mit der Hintergrundgeschichte und weil es auf dem Land immerhin bisschen besser ist als in der Innenstadt, tendiere ich schon auch eher zu Überforderung.
 
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Tatiana
20. Sept. 13:42
Weil Hunde sich so wie beschrieben verhalten wenn sie überfordert sind.
Das stimmt nicht ganz. Viele reagieren genau mit dem Verhalten auch aus Unterforderung. Das Verhalten deutet nur auf Stress und Frust. Die Auslöser dafür können aber unterschiedlich sein. Darum hatte ich nochmal nachgefragt!
 
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Tatiana
20. Sept. 13:45
Ich bin mir da gar nicht sicher, darum der Hinweis mit dem Tagebuch. Sicher ist nur, dass aktuell für alle Beteiligten viel Frust im Spiel ist. Egal ob über-oder unterfordert, es muss erst mal Stress raus genommen werden. Mit einem wird er aber ziemlich sicher überfordert sein: seine Impulse bei den Reizen zu kontrollieren. Ob das daher kommt, weiß generell zu viele Reize auf ihn einprasseln oder weil er zu wenig richtige auslastung bekommt und darum überdreht, wenn irgendwas spannendes kommt, kann man aus der Ferne unmöglich sagen. Aber mit der Hintergrundgeschichte und weil es auf dem Land immerhin bisschen besser ist als in der Innenstadt, tendiere ich schon auch eher zu Überforderung.
Ich sehe das mit den Handlungsweisen ganz genauso. Ich wollte nur nochmal nachfragen warum sich alle sicher sind das es Überforderung ist. Vielen Dank für deine Antwort! 😀
 
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Desiree
20. Sept. 13:56
Ich empfehle dir wärmstens dieses Buch zu lesen! 😉 Das "zaubert" zwar keine Probleme weg, wird dir aber sehr hilfreiche Schritte und Wege aufzeigen und auch das Verhalten deines Hundes vielleicht etwas verständlicher für dich machen!! Ich lebe und arbeite selbst seit vielen Jahren (und schon lange VOR dem Erscheinen dieses Buches) nach dieser Methode und habe erwachsene Hunde aus dem Tierschutz, die gechillt und ohne Leine mit mir Gassi gehen können 👌🏻. P.S. die Regel von wegen nicht auf Couch oder Bett.. an die halte ich mich übrigens NICHT 😜. Das ist aber situations- und hundeabhängig ☝🏻.
 
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Jochen
20. Sept. 14:41
Hast ja schon eine Menge Anregungen bekommen. Ich möchte dich unbedingt noch bitten, nicht auf die Idee zu kommen (äh, komischer Satz), ihn zu kastrieren, wenn er nicht hypersexuell ist. So Ratschläge werden bei dem Verhalten nämlich auch schnell geäußert. Ich kann mir auch nicht verkneifen, mich über die Pflegestelle zu ärgern. Warum haben sie sie nicht ordentlich sozialisiert, wenn sie schon in Deutschland geboren worden sind, finde ich unmöglich. Aber nützt ja nichts, es ist wie es ist.
 
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Sylvi
20. Sept. 14:45
Das mit den zwei Beinen in der Leine kenne ich von meiner Hündin aber nur wenn sie ein Hund interessiert. Dann tanzt sie wie ein Äffchen auf zwei Beinen 😅🙈 So nach dem Prinzip oh der is aber toll siehst du mich 🙃 Manchmal kommt es noch durch 🙄
Das ist bei Emmi wirklich nur wenn sie jemanden total toll findet. Das sind nicht so viele Hunde. Bei ihrem besten Freund führt sie jedesmal ihr Tännzchen auf. Deshalb laufen wir immer erst einmal kurz an der Leine ein Stück bis sie sich beruhigt hat und dann dürfen sie frei laufen. Dann ist die Freude groß und er wird regelrecht abgeschleckt 😂
 
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Tobias
20. Sept. 15:14
Hi, erst einmal ein wow zu den ganzen Antworten. Und vor allem zu dir. So wie sich das liest bist du echt schon mit einem guten Überblick unterwegs. Wir haben gerade ein ähnliches Thema mit einem jetzt 2 Jahre alten Bardino. Meine mittlerweile 5 Jahre alte Bardino-mix Dame war am Anfang auch schwieriger. Bei ihr war der Schlüssel Zeit und vertrauen. Vorteil unserer beiden ist allerdings das sie Hund-Hund können. (Auch wenn der große gerade seine Männliche Seite entdeckt.) Über Kastration wie jemand geschrieben hat würde ich nur auf Anraten eines Verhaltensmedizieners nachdenken, sonst kommt ggf. noch eine weitere Umstellung für den Hund dazu. Mit Trainern muss man dann aufpassen, da muss man dann schon den richtigen finden, gerade in deiner Situation, leider gibt es immer noch einige die zu Strafbasiertem Training neigen und das kannst du, bzw dein Hund, gar nicht gebrauchen. Ich würde mal mit einem Tierarzt mit Zusatzbezeichnung Verhaltenstherapie sprechen, der kann ggf. nämlich auch wenn notwendig medikamentös unterstützen. Klingt doof, weil man selbst das meist nicht möchte, aber es kann für den ein oder anderen Hund ein Türöffner in eine Stressfreiere Welt sein. Click für Blick (genau so aufgebaut) ist meist schwierig… du lässt eine Spinne im Badezimmer ja auch nicht aus den Augen wenn du Angst davor hast. Da gibt es im Netz einen guten Artikel „Click für Blick warum es nicht funktioniert“ und warum das eigentlich Click for Calm heißen sollte. Falls du das noch nicht kennst schau vielleicht einmal, war für mich ein Augenöffner. Und bei uns ist dann mit zunehmender Sicherheit automatisch ein Click für Blick daraus geworden. Ansonsten schau mal ob ein Trainer bei dir in der Nähe MindDog Training anbietet. Hab da mal ein Seminar mitgemacht und fand das wirklich überzeugend. Sehr einfach aufgebaut aber Vielseitig. Gerade für Orientierung und Vertrauen und dann in weiteren Schritten auch zum Aufbau von Sicherheit richtig gut. Vielleicht magst du dir das mal anschauen. LG und viel Erfolg
 
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Kirsten
20. Sept. 15:47
Was meiner Hündin am Anfang des Spaziergangs sehr geholfen hat, ist vor der Haustür stehen zu bleiben und erstmal die Reize, die man vor dort aus mitbekommen kann, wahrzunehmen und zu verarbeiten. Wenn sie damit fertig war, hat sie sich mit dem Kopf in meine Richtung gewendet, in der Hoffnung, das es weitergeht, was wir dann auch gemacht haben. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie das begonnen hat, vermutlich hat sie sich anfangs nur deswegen umgedreht weil sie genervt war, das es nicht weiter ging 😅 Generell würde ich mir aber auch wie Steffi es schon erwähnt hat, genau anschauen, ob bestimmte Methoden deinem Hund eher helfen oder ihn auf die Palme bringen.
 
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Lisa-Eileen
20. Sept. 19:12
Das stimmt nicht ganz. Viele reagieren genau mit dem Verhalten auch aus Unterforderung. Das Verhalten deutet nur auf Stress und Frust. Die Auslöser dafür können aber unterschiedlich sein. Darum hatte ich nochmal nachgefragt!
Geht ja um Überforderung in der Situation und nicht generell was die Auslastung angeht. Wenn ein Hund unausgelastet ist oder überlastet ist ist er mit vielem überfordert.
 
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Lisa-Eileen
20. Sept. 19:16
Was meiner Hündin am Anfang des Spaziergangs sehr geholfen hat, ist vor der Haustür stehen zu bleiben und erstmal die Reize, die man vor dort aus mitbekommen kann, wahrzunehmen und zu verarbeiten. Wenn sie damit fertig war, hat sie sich mit dem Kopf in meine Richtung gewendet, in der Hoffnung, das es weitergeht, was wir dann auch gemacht haben. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie das begonnen hat, vermutlich hat sie sich anfangs nur deswegen umgedreht weil sie genervt war, das es nicht weiter ging 😅 Generell würde ich mir aber auch wie Steffi es schon erwähnt hat, genau anschauen, ob bestimmte Methoden deinem Hund eher helfen oder ihn auf die Palme bringen.
Ja, auch nochmal ein guter Punkt. Das mach ich mit Rocket auch so. Plus halt nicht direkt losstiefeln, sondern wir laufen uns erstmal ein und gehen etwas vor der Tür hin und her bis er wenigstens einigermaßen bei mir ist. Erst dann gehen wir los.