Es ist tatsächlich schwierig zwischen einem ängstlichen unsicheren und einem deprivierten Hund zu unterscheiden... Auf jeden Fall von außen.
Als Haley mit 2,5 Jahren zu mir kam, hatte ich noch nie davon gehört. Diese 2,5 Jahre hatte sie im Zwinger auf einem deutschen Tierschutzhof verbracht. Sie ist dort aufgewachsen. 4 Monate verließ sie ihr neu gewonnenes Körbchen nicht, den Raum nicht, daß Haus verlässt sie bis heute selten freiwillig. Drinnen vollständige Apathie, draussen Angst und Panik. Völlig überfordert von sämtlichen Aussenreizen. Vom Wind in den Blättern, von Menschen, von anderen Hunden, von Dingen die wir gar nicht wahrnehmen. Bei Deprivierten Hunden geht es nicht nur um Angst. Sie sind eingeschränkt darin Beziehung und Bindung aufzubauen, auch zu ihrem Halter... Zu lernen, Erfahrungen zu sammeln, oft sind die Sinne nicht richtig ausgeprägt. Explorationsverhalten gleich null. Haley interessierte sich für gar nichts. Sie schnüffelte nicht, sie interessierte sich nicht für Futter oder Leckerchen oder gar Spielzeug. Auch nicht für Artgenossen. Sie machte mit Ach und Krach 1x in 24 Stunden Pipi und wirkte ansonsten wie in sich gefangen. Haley hätte im Haus auch eine Deko Figur sein können. Es fiel gar nicht auf das ein Hund im Haus war. Ich hatte einen Hund, der sich in keiner Form freute oder reagierte wenn ich Nachhause kam, zur Tür kam wenn ich ihn rief um mir nach draussen zu folgen. Haley lag oder saß irgendwo in der Ecke mit ihrem Trauerkloßgesicht oder einem Verhalten, als sei sie in Erwartung gleich verprügelt und misshandelt zu werden. Wenn wir sie irgendwohin Mitnahmen, saß sie teils Stunden In einer Ecke ohne sich zu bewegen. Ich trug 25 Kilo raus 4x am Tag... Normale Spaziergänge waren lange gar nicht möglich... Bestimmt 1 Jahr. Die Blicke und Kommentare der Außenwelt werde ich nie vergessen. Außenstehende wissen nicht was da passiert, wenn 25 Kilo zitternd, flach wie eine Flunder auf dem Boden liegen, weil ein Kind gegen einen Ball tritt. Oder ein Blatt vom Baum fällt. Haley schien vor Allem Angst zu haben und war gar nicht mehr ansprechbar.
Ich war oft verzweifelt, habe viel geweint, weil es mir weh tat diesen ausnahmslos liebevollen und liebenswerten Hund zu sehen, der mit dem ganzen Leben überfordert schien.
Ich nannte sie irgendwann liebevoll meinen "Autisten- Hund" und der Außenwelt voller "netter" Kommentare teilte ich mit, daß ich sie nur Dienstags und Donnerstags schlage 😜
Sie schreit nicht gerade "Ich bin ein normaler Hund".
Mitleid hilft ihr nicht, "da muss sie durch" hilft ihr nicht nur nicht... Sondern schadet ihr zusätzlich. Ich musste also lernen damit umzugehen. In nunmehr 2 Jahren hat sich viel getan, trotzdem wird Haley vielleicht niemals ein normales Hunde leben führen können. Die meisten Trainings oder Angstbewältigungs Ansätze greifen bei solch einem Hund nicht. Denn er hat nicht gelernt zu "lernen", er verarbeitet Erfahrungen nicht. Die dazu notwendigen Verbindungen im Gehirn haben sich nie gebildet. Ein deprivierter Hund ist kein Angsthund. Er ist tatsächlich gewissermaßen geistig behindert. Es ist schwer zu erklären.
Man muss Vieles in Kauf nehmen, sein Leben fast vollständig nach dem Hund ausrichten, Rücksicht nehmen, Nerven aus Drahtseil haben... Wenn man etwas erreichen will. Verloren sind diese Hunde in meinen Augen aber nicht. Denn mir wurde sogar zum einschläfern geraten, von einer Hunde schule.
Ich kaufte ihr stattdessen einen Aufnäher mit den Worten "Mama says I'm Special" und dann marschierten wir los. Es ist mir egal was andere Menschen denken oder tuscheln oder hinter meinem Rücken reden, weil mein Hund nicht ist wie Andere. Wenn ich heute wieder einmal meine 25 Kilo aus einer Situation tragen muss, weil absolut nichts mehr geht... Dann trage ich sie mit Stolz 😅
Als dieser Hund nach gut 1 Jahr das erste Mal losgerannt ist, und sich wie Bolle über eine Wiese freute, sich wortwörtlich überschlug, herumrollte, ganz simple Lebensfreude zeigte, hätte ich heulen können.
Nach fast 2 Jahren hat sie Lebensqualität und Freude, auch wenn sie immer noch in Vielem eingeschränkt ist. Auch wenn es immer mal Rückschritte gibt oder Tage an denen sie scheinbar alles vergessen hat.
Sie ist wie sie ist. Und für mich ist das ok
Ja, man muss lernen seinen Hund sehr gut lesen zu können. Es gibt ein "Ich finds gruselig, aber ich folge dir durch die Situation" und ein "Warte, ich muss mich sammeln und die Situation einschätzen und bewerten"... Und dann gibt es aber auch ein "Ende jetzt und hier, nichts geht mehr. Keine 10 Pferde bekommen mich da entlang".
Die Entscheidungsphase bis zur Flucht kann ich an Haley wirklich beobachten. Und dann muss ich eingreifen, bevor die Entscheidung gefallen ist.
Hat diese Hündin sich erstmal für die Flucht entschieden, hört die nix mehr, sieht die nix mehr, lässt sich nicht beruhigen und das zieht die durch... Nicht nur bis sie aus der Situation raus ist... Sondern bis sie in ihrem sicheren Zuhause ist.