Liebe Julia, ich fand deine Gedanken zur operanten Aggression und den Umgang mit Nero sehr eindrücklich – besonders auch dein Ringen mit der Frage, was funktioniert und was sich stimmig anfühlt. Diese Diskrepanz kennen viele, aber nur wenige formulieren sie so klar und ehrlich. Wie du beschreibst, dass er zwar sehr körperlich, sehr laut, aber dennoch - vielleicht grenzwertig aber noch - kontrolliert agiert, ist eine wichtige Nuancierung. Es gibt eben diese Form von Aggression, die weder rein reaktiv noch pathologisch ist, sondern strategisch – funktional und gezielt eingesetzt, ohne echte Schädigungsabsicht. Gerade weil sie selten und schwer einzuordnen ist, wird sie in vielen Trainingskonzepten schnell übersehen oder vorschnell etikettiert.
Ich habe viel über deine Beiträge nachgedacht und musste dabei auch an meinen Rüden denken. Auch bei ihm vermute ich, dass sich bestimmte Verhaltensmuster aggressiver Kommunikation schlicht bewährt haben – etwa in den ersten Lebensmonaten mit zu vielen Hunden, zu wenig Ressourcen und keiner stabilen Bezugsperson. Diese früh erlernten Mechanismen sind heute nicht mehr „nötig“, aber sie sind verfügbar – operant, abrufbar, und bis zu einem gewissen Grad selbstbelohnend. Das macht sie nicht gefährlich im Sinne von unkontrollierbar – aber eben auch nicht rein „affektgesteuert“.
In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob solche Muster überhaupt in die „normale“ Sozialstruktur des Hundes passen. Ich würde sagen: nicht typisch, aber auch nicht unnatürlich. Strategisch eingesetzte Aggression ist bei sozialen Tierarten selten – aber sie kommt vor. Und sie ist nicht zwangsläufig Ausdruck eines „defekten Systems“. Gerade bei durch Zucht geprägten Hunden lohnt sich der Blick darauf, was funktional geworden ist – nicht nur, was aus Sicht menschlicher Sozialverträglichkeit wünschenswert wäre.
Ich fand auch deinen Einwurf zur Selektion sehr treffend: Hunde(rassen) sind keine Produkte natürlicher Evolution im klassischen Sinne, sondern Ergebnis züchterischer Entscheidungen. Dabei haben sich nicht immer die durchgesetzt, die gut mit anderen klarkommen. Manche bestehen schlicht durch Durchsetzungskraft – was ethologisch erklärbar ist, im Alltag aber sehr herausfordernd sein kann.
Wenn du magst, kann ich dir zwei fundierte Quellen empfehlen, die Aggression aus verhaltensbiologischer Perspektive differenziert einordnen – vielleicht kennst du sie aber ohnehin schon:
Petra Krivy & Udo Gansloßer (2011): Mein Hund zeigt Aggressionen
Wissenschaftlich fundiert, aber praxisnah, erklärt verständlich, was echte Aggression vom harmlosen Drohverhalten unterscheidet. Zeigt auf, wie Aggression Kommunikation sein kann, wann sie problematisch wird – auch ohne pathologisierende Untertöne.
Feddersen-Petersen: Hundepsychologie – mit Schwerpunkt auf Ausdrucksverhalten, innerartlicher Verständigung und ritualisierter Aggression. Besonders wertvoll finde ich ihren Ansatz, Aggression als Teil der sozialen Kommunikation zu verstehen – etwas, das auch in vielen belohnungsbasierten Ansätzen zunehmend anerkannt wird.
Und abschließend noch ein Gedanke zu Steffis Kommentar, den ich ebenfalls sehr treffend fand: Du musst deine Persönlichkeit nicht verändern, um die Situation tragfähig zu gestalten. Du bist bereits sehr reflektiert, offen, suchend – das ist in einem ganz ursprünglichen Sinn „positiv“ und verantwortungsbewusst. Der Weg zu einer funktionierenden Lösung muss nicht geradlinig sein – er muss nur zu euch beiden passen. Und manchmal gehört auch dazu, verschiedene Wege ehrlich zu prüfen – inklusive der Möglichkeit, Verantwortung weiterzugeben. Das ist Haltung.
Sehr gut überlegt, wobei ich keinen Widerspruch sehe zwischen erlerntem/anerzogenem Verhalten und einer möglichen "abnormen"/pathologischen Qualität.
Wenn bestimmte Verhaltensmuster sich so exzessif und dominant verfestigen, dass sie kaum Flexibilität, kaum Alternativen zulassen und die zB in eine deutlich erhöhte Selbstgefährdung münden, hätten sie für mich durchaus das Recht, als pathologisch eingestuft zu werden.