Irgendwie reden wir glaub ich aneinander vorbei - mir scheint, du sprichst von Macht in ihrer klassischen Form von autoritärem Herumkommandieren...?
Wohingegen ich meine, dass Macht(gefälle) schlichtweg allen asymmetrischen Beziehungen innewohnen, auch wenn die noch so viel Dialog und Parzizipation zulassen.
Solange Einer für den Anderen verantwortlich ist und dem Verantwortlichen die letztgültige Entscheidung über den Schutzbefohlenen obliegt, besteht doch ein Machtgefälle, auch wenn Erster dem Zweiten in diesem Rahmen grösstmögliches Mitsprache- und Entscheidungsrecht einräumt...?
Beispiel: Wenn der Lehrer mit der Klasse den Schulausflug plant, kann er die Kinder sehr umfangreich in den Planungsprozess einbinden, ihre Meinung zu möglichen Alternativen einholen, ihre Vorschläge für die Routen aufnehmen, abstimmen lassen in welcher Hütte Pause gemacht wird - und dennoch bleibt er in der Verantwortunsposition, die Parameter der Wahlmöglichkeiten und des Beteiligungsausmasses vorzugeben bzw zu begrenzen und untragbare Vorschläge abzulehnen.
Das konstituiert in meinem Verständnis ein klares Machtgefälle, obwohl respektvoll, partizipativ und wenig autoritär mit den Kindern umgegangen wird.
Wir diskutieren keine unterschiedlichen Phänomene, lesen diese aber aus verschiedenen Perspektiven: Für dich scheint Macht primär strukturell, für mich vor allem relational. Das ändert, wie wir Führung, Verantwortung und Handlungsspielraum deuten.
Ja, asymmetrische Beziehungen beinhalten per Definition Verantwortung und Entscheidungsspielräume, das bestreitet niemand. Aber ob das automatisch ein „Machtgefälle“ im klassischen Sinne darstellt – also eines, bei dem einer ordnet und der andere gehorcht – oder ob es sich nicht vielmehr um eine qualitativ andere Form von Verantwortungsübernahme handelt, ist eben genau der Punkt.
Juul beispielsweise unterscheidet sehr klar zwischen Machtausübung und persönlicher Autorität. Letztere gründet nicht in formaler Überlegenheit, sondern in Integrität, Beziehungsfähigkeit und Verantwortung. Sie wirkt durch Orientierung und Verlässlichkeit – auch in asymmetrischen Verhältnissen.
Und genau hier liegt der Unterschied: Ich plädiere nicht für ein „es gibt keine Asymmetrien“, aber für ein anderes Verständnis davon, wie Führung in asymmetrischen Beziehungen aussehen kann – ohne auf ein veraltetes Machtmodell zurückzufallen.
Beispiel: Neo hat klare Grenzen – aber wir gestalten sie miteinander. Wenn er mitentscheiden darf, wie er mit einer Hundebegegnung umgeht, in einem Rahmen, den ich verantworte, ist das keine Machtabgabe, sondern Beziehung auf Augenhöhe – trotz asymmetrischer Verantwortung. Es ist genau das, was Juul „Führung durch Beziehung“ nennt – und was in der Ulli Philosophie ähnlich gedacht wird.
Wenn du unter Machtgefälle einfach die Verantwortung in asymmetrischen Beziehungen meinst, stimme ich dir zu. Wenn du aber daraus ableitest, dass Führung zwangsläufig mit struktureller Dominanz einhergeht – dann halte ich das für eine überholte Zuschreibung.
Nachtrag zu deinem Lehrerbeispiel:
Hier bleibt die formale Asymmetrie bestehen, aber das Erleben der Beziehung wird partnerschaftlicher, fördert Selbstwirksamkeit und Vertrauen, was genau der Kern beziehungsorientierter Führung ist.
Das Machtgefälle ist also strukturell da, aber entscheidend ist, wie es mit Leben gefüllt wird und welche Beziehung daraus entsteht.