Home / Forum / Verhalten & Psychologie / "Notfall"-Reaktion bei Leinenreaktivität

Verfasser
Dogorama-Mitglied
Einleitungs-Beitrag
Anzahl der Antworten 1103
zuletzt 31. Juli

"Notfall"-Reaktion bei Leinenreaktivität

Guinness ist einigen Rivalen in der Gegend gegenüber gerade eine ziemliche Popoöffnung. In den allermeisten Fällen bemerke ich seine Vorzeichen und hab das dann sehr gut im Griff, da kann ich auch ohne sonderliche Umstände normal weitergehen. Aber manchmal verpenn ich das rechtzeitige Reagieren oder es kommt jemand um ein Eck und dann mutiert er zum Monstrum, incl ganz hässliches, geiferndes Knurren. Da denkst du, der will den Anderen fressen. Ich find das derart GACK!, dass ich Probleme hab, da vernünftig darauf zu reagieren, meist werd ich dann auf Guinness ärgerlich und wir enden in einem Gerangel um Kontrolle. Ich möchte mir jetzt dafür eine Notfall-Reaktion zurechtlegen, um diesem Blödsinn entgegenzusteuern, möchte aber gleich von vorne weg "Nebenwirkungen" möglichst vermeiden - also zB wenn ich G einfach kurz nehmen und stehen bleiben würde, könnte er daraus schließen wenn er steht und geifert, geht der Rivale weg...? Habt ihr vielleicht Vorschläge, was eine sinnvolle Reaktion sein könnte, wenn er bereits ausgelöst hat?
 
Beitrag-Verfasser-Bild
Lena
12. Juni 13:49
Jörgs Einwurf zur Fütterung im Training ist aus lerntheoretischer Perspektive nachvollziehbar: Wenn Futter ohnehin eine knappe Ressource ist, spricht einiges dafür, es gezielt in gemeinsamen Aktivitäten wie der Objektsuche einzusetzen, anstatt dem Hund beizubringen, dass Futter auch ohne Mensch auffindbar ist. Das ist kein bindungstheoretisches Argument, sondern eine funktionale Überlegung im Kontext von Belohnungsstrategien. Die darauf folgende Aussage von Joe, Futter habe „nichts mit Bindung zu tun“, wirkt dagegen unnötig pauschal. Bindung ist mehr als Fütterung – aber eben auch nicht davon entkoppelt. Bowlby hat zwar betont, dass Bindung nicht durch Fütterung allein entsteht, aber er schließt Versorgung damit keineswegs aus dem Bindungskontext aus. Vielmehr betont er die Rolle der verlässlichen, responsiven Fürsorge – und dazu gehört auch das Verfügbarmachen von Nahrung, insbesondere in frühen Entwicklungsphasen. Es geht also nicht darum, dass gefüttert wird, sondern wie – ob als verlässliches, vorhersagbares Interaktionsangebot oder als neutraler Vorgang. Neurobiologisch ist das ebenfalls gut abgesichert: Das sog. CARE-System (Panksepp), das mütterliches Fürsorgeverhalten steuert, umfasst u. a. das Säugen, Wärmen, Lecken – und eben auch das Füttern. Und auch bei Hunden ist das Bild differenzierter, als es die Pauschalaussage vermuten lässt. Studien zeigen, dass Hunde soziale Kontexte – etwa das gemeinsame Arbeiten oder das Erleben von Sicherheit in Anwesenheit vertrauter Personen – klar bevorzugen. Aber sie zeigen auch, dass Futtergabe durch Bezugspersonen sozial anders verarbeitet wird als durch Fremde oder Automaten. Futter ersetzt keine Bindung. Aber Bindung, die Versorgung völlig ausklammert, bleibt theoretisch sauber und praktisch unbrauchbar. Es ist also weniger die Fütterung an sich, die bindungsrelevant ist, sondern ihr sozialer Rahmen – und der kann, sinnvoll eingesetzt, sehr wohl zur Beziehungsqualität beitragen. Wer das vollständig abkoppeln will, verliert leicht aus dem Blick, dass soziale Bindung nicht nur aus Abstrakta wie „Verlässlichkeit“ besteht, sondern aus konkret erlebbarer, körpernaher Regulation.
Ich bringe den Hund aber ja nicht bei, dass er Futter ohne mich findet, sondern, dass ich Futter verteile und er das dann suchen darf. Das was ich da hingetan hab und was nach mir riecht. Das weis er ja ganz genau. Also fehlt mir da der Zusammenhang zu „Futter ohne Mensch suchen bzw. finden“.
 
Beitrag-Verfasser-Bild
Lena
12. Juni 13:51
Futter macht Bindung überhaupt nicht aus. Bindung hat mit Futter nichts zu tun und wird nicht über das Verfügung Stellen von Nahrung gebildet. Sichere Bindung entsteht aus Verlässlichkeit und Berechenbarkeit als Sozialpartner und einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Unterstützen/Beschützen und auf eigenen Füßen stehen Lassen.
Deinem 2. Absatz stimme ich zu, dem 1. aber nicht. Warum hab ich ja schon geschrieben.
 
Beitrag-Verfasser-Bild
SandrA
12. Juni 13:55
Ich bringe den Hund aber ja nicht bei, dass er Futter ohne mich findet, sondern, dass ich Futter verteile und er das dann suchen darf. Das was ich da hingetan hab und was nach mir riecht. Das weis er ja ganz genau. Also fehlt mir da der Zusammenhang zu „Futter ohne Mensch suchen bzw. finden“.
Wenn wir dein praktisches Beispiel aufgreifen, lässt sich gut veranschaulichen, worum es geht:
Es macht einen Unterschied, ob der Hund lediglich weiß, dass ich Futter verteile und er es dann allein sucht – oder ob wir dabei in direkter Interaktion/sozialem Austausch stehen, während es gegeben wird - zum Beispiel gemeinsam jagen.
 
Beitrag-Verfasser-Bild
Jörg
12. Juni 14:10
Ich bringe den Hund aber ja nicht bei, dass er Futter ohne mich findet, sondern, dass ich Futter verteile und er das dann suchen darf. Das was ich da hingetan hab und was nach mir riecht. Das weis er ja ganz genau. Also fehlt mir da der Zusammenhang zu „Futter ohne Mensch suchen bzw. finden“.
Ich will das auch nicht als grundsätzlich falsch darstellen. Aber wenn man darüber nachdenkt bin ich der Meinung das man einen Solitär Jäger (Terrier) der schon von Haus aus sehr im außen ist noch mehr ins außen bringt. Ich werfe Futter von mir weg und der Hund soll es suchen fördert Abstand. Im Gegensatz zum ich Versteck einen Ball und er bringt mir den auf Kommando und ich belohne ihn verbal und mit Futter. Was Glaube ich eher die Nähe zu Halter Fördert. Das ist meine Meinung. Ist also kein Gesetz und es geht mir nicht dabei ums Recht. Es ist einfach nur meine Meinung.
 
Beitrag-Verfasser
Dogorama-Mitglied
12. Juni 14:25
Was sind Beziehungsaspekte?
Im breitesten Spektrum alles, was die Interaktion zwischen Lebewesen ausmacht - was wird wann wie und warum kommuniziert, wie wird zu welchem Zweck miteinander umgegangen.
Die Bindungsmodelle beschreiben einen Teil davon, der sich um die Aspekte Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und Vertrauen konzentriert.
 
Beitrag-Verfasser
Dogorama-Mitglied
12. Juni 14:52
Danke, Julia – dein Hinweis auf die taktilen Instinkte im Kontext der Harlow-Experimente ist ein spannender Aspekt. Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die Stoffmutter vor allem als sensorischer Beruhigungsanker diente – nicht als vollwertige Bindungsfigur. Genau das macht aber auch deutlich, wie basal körperlich vermittelte Sicherheitserfahrungen zur Entwicklung von Bindung beitragen können, ohne sie bereits zu belegen. Gleichzeitig zeigen Studien zur Mensch-Hund-Beziehung, dass Fürsorgehandlungen – einschließlich sozial eingebetteter Fütterung – in der frühen Bindungsentwicklung eine wichtige Rolle spielen. Dabei zählt vor allem der kommunikative Kontext: Blickkontakt, Stimme, Timing. Ich stimme dir zu, in diesem Zusammenspiel entstehen – zumindest bei sozial motivierten Individuen – oft stabile Beziehungsmuster, aus denen sich auch Bindung entwickeln kann. Genau, dass man Beziehung, Bindung, Prägung und auch instinktives Verhalten konzeptionell trennen kann, ist unbestritten – und ich stimme dir abermals zu, in der Praxis sind die Übergänge aber häufig fließend. Gerade deshalb lohnt es sich, Begriffe sauber zu verwenden, aber ohne in starre Entweder-oder-Logiken zu verfallen.
Ich glaube nicht, dass die Stoffmutter je als vollwertiger Bindungspartner interpretiert wurde, sondern dass aus der klaren Präferenz für sie die davor postulierte zentrale Bedeutung von Fütterung für die Bindungsentwicklung als widerlegt galt.
Hunger Stillen ist ebenso ein basaler Instinkt wie Schutz/Wärme/Geborgenheit Suchen, wenn erster hinter zweitem deutlich nachrangig behandelt wird, macht das die daraus etablierten Rückschlüsse imho schon nachvollziehbar.

Falls sich der Vorwurf starrer Entweder-Oder-Logik an mich richtet, darf ich fragen, wo du die verortest?
Dass Nahrungszurverfügungstellung im Kontext bindungsgestaltender Interaktionen vorkommen bzw auf andere Bereiche der Beziehungsgestaltung Einfluss haben kann, hab ich ja auch gesagt - das scheint mir aber kein Indikator dafür, dass Füttern ursächlich auf die Bindungsbildung Einfluss hat...

Wie schätz du denn zB eine Situation ein, wo die Bezugspersonen nicht in der Lage sind, verlässlich mit Nahrung zu versorgen?
Würdest da deiner Meinung nach die Entwicklung einer sicheren Bindung beeinträchtigt?
 
Beitrag-Verfasser
Dogorama-Mitglied
12. Juni 15:10
Handfütterung allein bewirkt sicher keine „starke Bindung“ – aber im Kontext einer verlässlichen, fein abgestimmten Interaktion kann sie Teil einer bindungsfördernden Gesamterfahrung sein.
Ja, da kann ich mit, wobei ich die Handfütterung als gegebenenfalls beziehungsfördernd bezeichnen würde (sofern der so Gefütterte das als angenehm empfindet oder die die Etablierung einer Kontaktaufnahme unterstützt).

Die Bindungsentwicklung ansich sehe ich wie gesagt nicht ursächlich mit Fütterung verknüpft, ich denke, dass auch zu Bezugspersonen, die nie Nahrung zur Verfügung stellen, die selben Bindungsarten entstehen können.

Soweit ich informiert bin, geht es bei Bindung vorrangig darum, ob die Bezugspersonen als verlässlicher, sicherer Rückhalt und Anlaufstelle beim Explorieren empfunden werden.
Das kann doch auch der Opa sein, auch wenn der nicht ein Mal das Essen auf den Tisch stellt, oder...?
 
Beitrag-Verfasser
Dogorama-Mitglied
12. Juni 15:14
Deinem 2. Absatz stimme ich zu, dem 1. aber nicht. Warum hab ich ja schon geschrieben.
Vielleicht bin ich auch nichtmehr auf dem neuesten Stand.

Kannst du mich vielleicht an die Literatur verweisen, die die Relevanz von Futtergabe für die Bindungsbildung bespricht?
 
Beitrag-Verfasser-Bild
SandrA
12. Juni 15:20
Ich glaube nicht, dass die Stoffmutter je als vollwertiger Bindungspartner interpretiert wurde, sondern dass aus der klaren Präferenz für sie die davor postulierte zentrale Bedeutung von Fütterung für die Bindungsentwicklung als widerlegt galt. Hunger Stillen ist ebenso ein basaler Instinkt wie Schutz/Wärme/Geborgenheit Suchen, wenn erster hinter zweitem deutlich nachrangig behandelt wird, macht das die daraus etablierten Rückschlüsse imho schon nachvollziehbar. Falls sich der Vorwurf starrer Entweder-Oder-Logik an mich richtet, darf ich fragen, wo du die verortest? Dass Nahrungszurverfügungstellung im Kontext bindungsgestaltender Interaktionen vorkommen bzw auf andere Bereiche der Beziehungsgestaltung Einfluss haben kann, hab ich ja auch gesagt - das scheint mir aber kein Indikator dafür, dass Füttern ursächlich auf die Bindungsbildung Einfluss hat... Wie schätz du denn zB eine Situation ein, wo die Bezugspersonen nicht in der Lage sind, verlässlich mit Nahrung zu versorgen? Würdest da deiner Meinung nach die Entwicklung einer sicheren Bindung beeinträchtigt?
Es ging beim Harlow Experiment nicht darum, die Stoffmutter als vollwertigen Bindungspartner zu sehen, sondern zu zeigen, dass Bindung über reine Versorgung hinausgeht und auch Schutz, Wärme und soziale Nähe umfasst. Dass das Hungerstillen dabei hinter dem Bedürfnis nach Sicherheit zurücksteht, ist unbestritten.

Aber daraus abzuleiten, Füttern habe keinen ursächlichen Einfluss auf Bindungsbildung, greift zu kurz. Bindung entsteht in einem komplexen Geflecht sozialer Interaktionen, zu denen wiederholte, verlässliche Fürsorgehandlungen gehören – und Füttern ist ein zentrales, evolutionär verankerteres Ritual, das soziale Nähe und Vertrauen fördert. Gerade bei domestizierten Hunden, lässt sich diese Komponente nicht ausklammern.

Die „starre Entweder-Oder-Logik“ sehe ich eher bei der Aussage, Füttern habe nichts mit Bindung zu tun – das war nämlich Ausgangspunkt meiner Kritik. Deine spätere Differenzierung bestätigt ja, dass Fütterung sehr wohl Einfluss auf Beziehungsebenen hat, wenn auch nicht alleinige Ursache der Bindung ist.

Zur Frage der verlässlichen Nahrung: Ein verlässliches Umfeld, das auch Versorgung sichert, ist sicherlich förderlich für sichere Bindung. Umgekehrt ist aber auch klar: Fehlt diese Versorgung dauerhaft, werden andere Bindungskomponenten und Verhaltensweisen stark belastet – das sehen wir etwa bei Hunden in schlechten Haltungssituationen oder misslungenen Sozialisationen. Bindung ist also immer multikausal, kontextabhängig und entsteht nicht im luftleeren Raum – Fütterung ist dabei eben ein integraler Baustein.
 
Beitrag-Verfasser-Bild
Yvonne
12. Juni 15:24
Ja, da kann ich mit, wobei ich die Handfütterung als gegebenenfalls beziehungsfördernd bezeichnen würde (sofern der so Gefütterte das als angenehm empfindet oder die die Etablierung einer Kontaktaufnahme unterstützt). Die Bindungsentwicklung ansich sehe ich wie gesagt nicht ursächlich mit Fütterung verknüpft, ich denke, dass auch zu Bezugspersonen, die nie Nahrung zur Verfügung stellen, die selben Bindungsarten entstehen können. Soweit ich informiert bin, geht es bei Bindung vorrangig darum, ob die Bezugspersonen als verlässlicher, sicherer Rückhalt und Anlaufstelle beim Explorieren empfunden werden. Das kann doch auch der Opa sein, auch wenn der nicht ein Mal das Essen auf den Tisch stellt, oder...?
Nur kurz am Rande:
Das was ihr hier beschreibt ist Beziehung, nicht Bindung.
Bindung wird ausschließlich im Falle einer Trennung sichtbar/erkennbar.
Bei der Beziehung geht es u. a. um Vertrauen und Respekt.

Ein Hund kann eine sehr gute Bindung zu einem Menschen haben, aber gleichzeitig eine schlechte Beziehung zu ihm.
Der Hund kann seinem Menschen bei Trennung hinterher trauern, obwohl er ihm nicht vertraut und vielleicht sogar Angst vor ihm hat.