Ich habe das nicht geschrieben, um Mitleid zu bekommen.
Da prallen halt akademische Theorie und Praxis aufeinander.
Man kann noch so lange Täterprofile analysieren und vehement bezeugen, dass der Täter die Verantwortung und Schuld trägt, es hilft in der Realität niemandem, der ausgenutzt, missbraucht, gemobbt etc, wird.
Bei mir in der Therapie ging es auch Null darum, dass meine Chefin die Täterin ist und Schuld hat und ihre Macht missbraucht hat und das ganze System auf der Arbeit es ermöglicht hat. Wieso nicht?
Weil ich das selber weiß. Da brauche ich keine Studien, um davon überzeugt zu werden, dass sie das A-loch war und alle Vorgesetzten, die seit Jahren ganz bemüht wegschauen.
Victim blaming wäre zu sagen, Kind A IST Schuld, dass es gemobbt wird, WEIL Kind A eine Brille trägt.
Das ist doch etwas völlig anderes, als Selbst-und Persönlichkeitsentwicklung.
Wie gehe ICH damit um, wenn sich jemand über meine Brille lustig macht.
Unser eigenes Verhalten und Handeln aktiv zu beeinflussen gibt uns doch Macht und Kontrolle zurück.
Darauf zu warten, dass der Mobber sich selbst reflektiert und sich Hilfe sucht, wie du es politisch korrekt formuliert hast, ist Opfer BLEIBEN und auf die Gnade von Stärkeren hoffen.
Früher haben gemobbte Kinder Karate angefangen (kein Opfer mehr sein) und heute stecken wir Leute in Safe Spaces (dem Täter entfliehen).
Um wieder auf Hunde zurückzukommen.
Einem unsicheren Hund, der oft bedrängt, dominiert und gejagt wird, hilft es selten, nur mit netten Hunden zu spielen oder ihn komplett in Watte zu packen und gar keinen Hundekontakt mehr zu erlauben (Safe space). Auch hilft es ihm selten, ständig den bedrängenden, dominierenden und jagenden Hunden auf einer Hundewiese zum Fraß vorgeworfen zu werden, "damit er lernt sich zu wehren".
Was meistens hilft ist es das Selbstbewusstsein zu stärken (Karate machen), indem man mit dem Hund zum Beispiel Hundesport macht, Herausforderungen bewältigt z.b. über Hürden klettern, balancieren, springen usw. Und plötzlich laufen die Hundebegegnungen "wie von allein" besser, weil der Hund souverän mit Herausforderungen umgehen kann und selbstbewusst ist.
Natürlich ist es wichtig, sich persönlich weiterzuentwickeln, Resilienz aufzubauen und sich nicht als „Opfer“ zu sehen. Aber das entbindet den Täter nicht von seiner Verantwortung. Es geht nicht darum, auf die „Gnade der Täter“ zu hoffen, sondern um das Verständnis, dass der Fokus immer auf denjenigen liegen sollte, der die schädigende Handlung begeht. Ohne diese klare Trennung geraten wir in Gefahr, die Verantwortung auf das Opfer zu übertragen, was genau das ist, worüber ich spreche, wenn ich von Victim Blaming rede.
Victim Blaming bedeutet nicht nur zu sagen: „Kind A trägt eine Brille und ist deshalb selbst schuld, gemobbt zu werden.“ Es bedeutet auch, wenn wir die Lösung für Mobbing oder Missbrauch darin suchen, dass das Opfer sich ändern muss, statt die Strukturen und das Verhalten des Täters zu hinterfragen.
Ja, Selbststärkung ist wichtig, aber es ist genauso wichtig zu erkennen, dass Mobbing durch den Täter entsteht und dieser sich ändern muss. Wenn wir die Verantwortung auf das Opfer legen, selbst wenn wir es als „Selbstentwicklung“ verkaufen, verlagern wir den Fokus und lassen den eigentlichen Verursacher aus dem Blick.
Ohne Forschung gäbe es übrigens viele dieser Ansätze zur Selbststärkung überhaupt nicht. Therapie und Selbstentwicklung basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Forschung untersucht Täterprofile, Mobbingdynamiken und Machtstrukturen, um daraus Hilfsmittel für Betroffene zu entwickeln. Zu sagen, dass Theorie und Praxis nicht zusammengehören, ist nicht korrekt. Es gibt einen ständigen Austausch zwischen den beiden – Theorie wird an der Praxis erforscht und verbessert, und daraus entwickeln sich Ansätze, die dann wieder in die Praxis zurückfließen. Es ist also keine akademische Spielerei, sondern der Grund, warum es heute so viele effektive Werkzeuge gibt, um Menschen zu helfen.
Deine Erfahrungen sind wertvoll, keine Frage, aber sie sind eine Einzelperspektive. Forschung berücksichtigt viele solcher Erfahrungen, um allgemeingültige Muster zu erkennen und Lösungen zu entwickeln, die für eine Vielzahl von Menschen funktionieren.