Begegnungsprobleme treten glaube ich meist viel später auf.
Die, ich nenne es mal "klassische", Sozialisierungsphase ist ja mit etwa 18 Wochen beendet.
Die meisten Hunde kriegen aber deutlich später Probleme mit Fremdhundebegegnungen.
Das bestätigt ja eigenlich, dass die Sozialisierung vermutlich gar keinen so großen Effekt auf spätere innerartliche Konflikte Einfluss hat. Da scheinen doch andere Faktoren einen größeren Einfluss zu haben z.b. die Hund-Mensch Beziehung, wie hier angesprochen wurde.
Es wird aber oft als Zeichen mangelnder Sozialisierung gesehen und das finde ich dahingehend problematisch, dass der Fokus im Training falsch gesetzt wird.
Denn der Hund sei ja derjenige, der nicht gelernt haben soll mit Hunden zu kommunizieren.
Natürlich sollen unsere Hunde nicht in einer Tierschutz Meute leben, sondern bei uns. Die Integration eines Hundes, der nach unserem Verständnis absolut nicht sozialisiert ist, in die Meute, ist aus meiner Sicht ein Hinweis darauf, dass die Sozialisierung eben nicht entscheidend für innerartliche Kommunikation ist.
Jetzt will ich nicht sagen, dass man seinen Welpen isolieren soll. Überhaupt nicht!
Innerartliche Kontakte sind ein soziales Grundbedürfniss, das definitiv entsprechen erfüllt gehört.
Ich überlege nur, ob der Fokus verschoben oder an der falschen Stelle liegt.
Desweiteren sollte man bei der Sozialisierung vielleicht auch auf andere Dinge achten. Wenn das Ziel ist, dass ein Hund entspannt an der Leine an anderen vorbei geht, ist der Fokus auf freie Spielgruppen vielleicht auch nicht richtig. Da lernt er ja das Gegenteil von dem Verhalten, dass man eigentlich erreichen möchte, wenn er nicht mehr klein und süß ist und zu jedem hin darf.
Andererseits habe ich mehrfach gehört, man wolle keinen Junghund oder Erwachsenen Hund aufnehmen, weil man ja die Sozialisierungsphase verpasst hätte und diese so wichtig sei (jedem steht natürlich freu sich für einen Welpen zu entscheiden, da gibt es legitime Gründe die ich nicht kritisieren will). Diese "Hyperfokussierung" auf die Sozialisierung kann Folgen für das Training später haben und beeinflusst Menschen in ihrem Denken und Handeln.
Das stelle ich ein bisschen in Frage. Mehr für mich selber, weil mein Fokus eben auch sehr stark auf die Sozialisierung bzw der verpassten Sozialisierung lag.
Ich denke, die Theorie zu den Sozialisierungsphasen hat ohne Frage einen berechtigten Kern. Aber mir fällt auf, dass es in der Wissenschaft immer wieder Konzepte gibt, die über Jahrzehnte hinweg stark betont, fast schon „verabsolutiert“, werden, ohne dass die kritischen Stimmen ausreichend Gehör finden. Ein gutes Beispiel dafür ist für mich die Bindungstheorie von Bowlby, sie wird in vielen psychologischen Kontexten nahezu inflationär zitiert, obwohl es mittlerweile auch fundierte Kritik daran gibt, etwa in Bezug auf soziale Schicht, kulturelle Unterschiede oder die langfristige Stabilität von Bindungsmustern.
Ich habe das Gefühl, dass es mit der Sozialisierungstheorie bei Hunden ähnlich läuft. Auch sie stammt ursprünglich aus wissenschaftlichem Kontext, wird aber in der Praxis manchmal zu absolut gesehen. Dabei ignoriert man häufig, wie flexibel Verhalten im Laufe des Lebens noch formbar ist, durch Beziehungserfahrungen, durch Umweltgestaltung und vor allem durch Training. Gerade wenn wir davon ausgehen, dass Sozialverhalten auch kontextbezogen und dynamisch ist, wird deutlich, dass man diese frühen Phasen nicht überhöhen sollte.
Was mir außerdem auffällt: Gerade bei diesen stark verabsolutierten Theorien wird die Verantwortung häufig ausgelagert, auf andere oder auf die Vergangenheit. Das schafft eine gewisse Entlastung. Wenn ich sage, „Mein Hund ist in der Welpenzeit nicht ausreichend sozialisiert worden, da kann man jetzt nichts mehr machen“, dann muss ich mich selbst nicht hinterfragen oder etwas an meiner Haltung oder meinem Umgang ändern. Ähnlich bei der Bindungstheorie: Wenn ich heute Bindungsschwierigkeiten habe, kann ich sagen, dass das an meiner Kindheit liegt, und dass meine Eltern schuld sind. Damit erscheint Veränderung fast unmöglich oder nicht notwendig, man bleibt in einer Art passiven Haltung. Ich glaube, gerade deshalb sind solche Theorien auch so beliebt, sie geben einfache Erklärungen und verschieben die Verantwortung.
Was ich problematisch finde, ist auch die selektive Herangehensweise: Während bei manchen Themen wie Rassezugehörigkeit oder Genetik extrem kritisch diskutiert wird, oft mit nachvollziehbarer Skepsis, wird anderen Theorien wie der Sozialisierungsphase oder klassischen Bindungstheorien eher unkritisch Glauben geschenkt. Das wirkt auf mich manchmal inkonsequent.
Und auch im menschlichen Bereich zeigt sich das: Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen aus niedrigeren sozialen Schichten häufiger unsicher-ambivalente Bindungsmuster zeigen, nicht unbedingt, weil ihre Eltern schlechtere Bindungspersonen waren, sondern weil soziale Bedingungen, Bildungschancen und Alltagsstressoren eine riesige Rolle spielen. Diese Faktoren wirken vielschichtig, und das, denke ich, lässt sich auch gut auf Hunde übertragen. Es ist nicht nur die frühe Sozialisierung, sondern das Gesamtsystem, in dem ein Hund lebt, das sein Verhalten langfristig prägt.