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Julia 🐾Nero
Einleitungs-Beitrag
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zuletzt 18. Juli

Das Sozialisierungs-Paradox

Ich möchte mal meine aktuellen Gedanken teilen und gerne andere Meinungen einholen. Derzeit folge ich Tierschützern, die in Bosnien-Herzegowina Hunde aus Zwingern und von der Kette retten. Absolut herzzerreißend, Welpen werden mit wenigen Wochen an 2 Meter und kürzere Ketten gelegt und leben ihr Leben lang so. Oft auf Matsch und Schlamm, während 1 Meter weiter Gras und Wiese ist, an die sie nie rankommen... Aber darum geht es eigentlich nicht in diesem Thread. Es geht darum, dass diese Hunde mit 5 Jahren oder älter ziemlich problemlos und schnell nach Rettung in große Hundegruppen integriert werden können. Mit Hunden aller Größen, Fellfarben, kupierten Hunden und Plattnasen. Es funktioniert erstaunlich gut. Das widerspricht aber irgendwie der weit verbreiteten Sozialisierungstheorie, in der Hunde möglichst früh mit möglichst vielen verschiedenen Hunden Kontakt haben müssen um "hündisch" zu lernen. Verpasst man das sind innerartliche Konflikte vorprogrammiert, weil die Hunde keine angemeassen Kommunikation gelernt haben sollen und die "Resozialisierung" ein langer und steiniger Weg. Wie passt das zusammen? Gibt es eine Hyperfokussierung auf die sogenannte Sozialisierung und sind wir dadurch möglicherweise blind für andere Faktoren, die tatsächlich zu Unverträglichkeiten und innerartlicher Aggression führen? Denn es scheinen auch die Hunde, die brav Welpenstunden, Spielgruppen, Junghundekurse und Social Walks gemacht haben Probleme mit Artgenossen zu entwickeln. Dennoch wird es auf mangelnde oder falsche Sozialisierung geschoben. Ist unser Verständnis von Sozialisierung (das aktuell durch Hundeschulen geprägt ist) einfach komplett falsch? Wieso können Ketttenhunde perfekt hündisch, obwohl sie nie mit Artgenossen in Kontakt waren und unsere Hundeschulenhunde nicht?
 
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Andreas
1. Juni 19:36
Nun, ich weiß nur, dass wir als Kinder um diese Gebiete mit freilaufenden, aggressiven Hunden einen riesen Bogen gemacht haben. Heute sind jedoch viel mehr Hunde, Menschen, Autos, Fahrräder usw unterwegs. Niemand macht da extra einen Umweg... Die Straße auf der ich als Kind stundenlang spielen konnte ist heute zeitweilig wie eine Autobahn. Selbst der freundlichste freilaufende Dorfhund gerät da heute in Gefahr. Fazit: ich persönlich denke nicht, dass es weniger Vorfälle auf Grund der damaligen Hundehaltung gab.
.ja.. Ich habe es in meiner Kindheit anders erlebt und schließe aus meinen späteren Erfahrungen auf einen Zusammenhang.. Allerdings finde ich die Ausführungen hier sehr interessant und die Weisheit habe ich persönlich nicht gefressen.. nur Erfahrungen gesammelt..

Aber es ist sehr interessant, was Du schreibst!!.. Mein Bruder ist auch immer vor "aggressiven Hunden" ausgewichen.. ich nie.. Wir haben also dieselben Dinge erlebt und sie total anders wahrgenommen..

Ich lerne hier gerne dazu..
 
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* ᴀʟᴇxᴀꜱ ꜱᴄʜɴᴀᴜᴢᴇʀᴛʀᴜᴘᴘ
1. Juni 19:42
.ja.. Ich habe es in meiner Kindheit anders erlebt und schließe aus meinen späteren Erfahrungen auf einen Zusammenhang.. Allerdings finde ich die Ausführungen hier sehr interessant und die Weisheit habe ich persönlich nicht gefressen.. nur Erfahrungen gesammelt.. Aber es ist sehr interessant, was Du schreibst!!.. Mein Bruder ist auch immer vor "aggressiven Hunden" ausgewichen.. ich nie.. Wir haben also dieselben Dinge erlebt und sie total anders wahrgenommen.. Ich lerne hier gerne dazu..
Ich glaube, da hast du Recht.
Hier lese ich auch oft von ganz schlimmen tut Nixen etc.
Uns passiert auch schonmal, dass ein Fremder Hund irgendwo aus dem nichts auftaucht. Manche kommen langsam, manche bellend angeschossen, aber nicht schlimm.

Meine Erfahrung ist nämlich die ganze lauten und zähnefletschender sind gar nicht die aggressiven, sondern eher die unsicheren.

Die die es wirklich ernst meinen sind immer ganz still und schnell. 😅
 
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GABRIELE
1. Juni 19:52
Meine Maus kommt auch aus dem Auslandstierschutz und wurde die ersten 2Lebensjahre in einer Ruine ohne Kontakt zu Artgenossen angekettet.
Nach ihrer Befreiung lebte sie bei einer griechischen Tierschützerin in einem Rudel ohne Probleme.
Seit sie bei mir ist auch keine Probleme mit Artgenossen.Sie ist total verschmust,liebt Kinder und ich kann sie problemlos überall mitnehmen.
 
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Kristina
1. Juni 20:22
.ja.. Ich habe es in meiner Kindheit anders erlebt und schließe aus meinen späteren Erfahrungen auf einen Zusammenhang.. Allerdings finde ich die Ausführungen hier sehr interessant und die Weisheit habe ich persönlich nicht gefressen.. nur Erfahrungen gesammelt.. Aber es ist sehr interessant, was Du schreibst!!.. Mein Bruder ist auch immer vor "aggressiven Hunden" ausgewichen.. ich nie.. Wir haben also dieselben Dinge erlebt und sie total anders wahrgenommen.. Ich lerne hier gerne dazu..
Na, niemand ist allwissend. 😅

Wobei ich leider sagen muss, dass die aggressiven Hunde die ich meine, wirklich aggressiv waren. Nur wurden Beißvorfälle damals nicht so breit kommuniziert.
 
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Carola
1. Juni 20:23
Deine Fragestellung poppt bei mir etwa so auf .." warum gab es nahezu keine Beissunfälle mit freilaufenden Dorfhunden (in meiner Kindheit), die nahezu keine Erziehung und Zuwendung, nach heutigem Verständnis, erhielten..? Spannend.. Danke für diesen interessanten thead.
Auch ein freilaufender Dorfhund hatte ein Zuhause und lebte dort mehr oder weniger im Kontakt mit Menschen und auf seinen Spaziergängen hatte er ausreichend Kontakt zu anderen Hunden. Wenn so ein Hund jemanden biss war er ganz schnell weg! Ausnahme waren die Hofhunde aber die liefen ja nicht frei im Dorf herum sondern die blieben auf dem Hof und hatten dort aufzupassen. Natürlich war man vorsichtig wenn man wusste dass auf einem Hof so ein Wächter ist aber da jeder wusste welcher Hund garstig war ging man denen schon mal vorsichtshalber aus dem Weg.
Das hat aber ja nur bedingt mit dem Thema zu tun denn hier geht es ja um Hunde die keinen Kontakt mit Artgenossen hatten.
 
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Susa
1. Juni 23:29
Ich war bei meinem Hund auch ganz überrascht, der hat ganz stark gepöbelt wenn irgendwo ein anderer Hund zu sehen war, aber in der Hundetagesstätte in einer größeren Gruppe hatte er garkeine Probleme, nicht mal mit anderen intakten Rüden.

Ich hab auch mal gehört, dass Hunde eine Strategie für Hundebegegnungen an der Leine haben und wir Menschen den Hunden das abtrainieren und es dadurch schlimmer wird.
Zb der Hund will einen Bogen laufen - darf der nicht, der soll ja nicht an der Leine ziehen und muss auf dem Weg bleiben. Oder der Hund bleibt stehen und Schnüffelt am Boden rum - der soll aber Fuß laufen und dich angucken.
 
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Julia 🐾Nero
2. Juni 06:40
Ich möchte nochmal auf etwas im Eingangstext eingehen, was für mich wichtig bei der Definition von Sozialisierung ist: "Das widerspricht aber irgendwie der weit verbreiteten Sozialisierungstheorie, in der Hunde möglichst früh mit möglichst vielen verschiedenen Hunden Kontakt haben müssen um "hündisch" zu lernen. Verpasst man das sind innerartliche Konflikte vorprogrammiert, weil die Hunde keine angemeassen Kommunikation gelernt haben sollen und die "Resozialisierung" ein langer und steiniger Weg." Für mein Verständnis ist hier der Gedanke dahinter ein bisschen missverstanden. Die Sozialisation, die hierzulande betrieben wird, dreht sich ja nicht um "hündisch" im allgemeinen, sondern um unter anderem Umgang mit Fremdhundekontakt. Es ist für Hunde ja erstmal völlig unnatürlich, z.B. angeleint frontal auf völlig Fremde zu zu laufen. Und alles was sonst noch dazu gehört. Dass da davon gesprochene wird, dass sowas im besten Fall viel mit gut sozialisierten und verschiedenen Hunden geübt wird, ist für mich nachvollziehbar. Dass da Fehler passieren auch. Dass sowas schlecht bzw. oft nur langwierig aufgearbeitet werden kann ebenfalls. Aber ob eine Tierschutz Meute da viel ändert? Ob die Hunde deswegen weniger Probleme damit hätten? Würd ich mich nicht drauf einstellen. Kann klappen bzw. sich verbessern, aber auch nur mit entsprechender Arbeit.
Begegnungsprobleme treten glaube ich meist viel später auf.
Die, ich nenne es mal "klassische", Sozialisierungsphase ist ja mit etwa 18 Wochen beendet.
Die meisten Hunde kriegen aber deutlich später Probleme mit Fremdhundebegegnungen.

Das bestätigt ja eigenlich, dass die Sozialisierung vermutlich gar keinen so großen Effekt auf spätere innerartliche Konflikte Einfluss hat. Da scheinen doch andere Faktoren einen größeren Einfluss zu haben z.b. die Hund-Mensch Beziehung, wie hier angesprochen wurde.
Es wird aber oft als Zeichen mangelnder Sozialisierung gesehen und das finde ich dahingehend problematisch, dass der Fokus im Training falsch gesetzt wird.
Denn der Hund sei ja derjenige, der nicht gelernt haben soll mit Hunden zu kommunizieren.

Natürlich sollen unsere Hunde nicht in einer Tierschutz Meute leben, sondern bei uns. Die Integration eines Hundes, der nach unserem Verständnis absolut nicht sozialisiert ist, in die Meute, ist aus meiner Sicht ein Hinweis darauf, dass die Sozialisierung eben nicht entscheidend für innerartliche Kommunikation ist.

Jetzt will ich nicht sagen, dass man seinen Welpen isolieren soll. Überhaupt nicht!
Innerartliche Kontakte sind ein soziales Grundbedürfniss, das definitiv entsprechen erfüllt gehört.

Ich überlege nur, ob der Fokus verschoben oder an der falschen Stelle liegt.

Desweiteren sollte man bei der Sozialisierung vielleicht auch auf andere Dinge achten. Wenn das Ziel ist, dass ein Hund entspannt an der Leine an anderen vorbei geht, ist der Fokus auf freie Spielgruppen vielleicht auch nicht richtig. Da lernt er ja das Gegenteil von dem Verhalten, dass man eigentlich erreichen möchte, wenn er nicht mehr klein und süß ist und zu jedem hin darf.

Andererseits habe ich mehrfach gehört, man wolle keinen Junghund oder Erwachsenen Hund aufnehmen, weil man ja die Sozialisierungsphase verpasst hätte und diese so wichtig sei (jedem steht natürlich freu sich für einen Welpen zu entscheiden, da gibt es legitime Gründe die ich nicht kritisieren will). Diese "Hyperfokussierung" auf die Sozialisierung kann Folgen für das Training später haben und beeinflusst Menschen in ihrem Denken und Handeln.
Das stelle ich ein bisschen in Frage. Mehr für mich selber, weil mein Fokus eben auch sehr stark auf die Sozialisierung bzw der verpassten Sozialisierung lag.
 
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M.
2. Juni 07:31
Begegnungsprobleme treten glaube ich meist viel später auf. Die, ich nenne es mal "klassische", Sozialisierungsphase ist ja mit etwa 18 Wochen beendet. Die meisten Hunde kriegen aber deutlich später Probleme mit Fremdhundebegegnungen. Das bestätigt ja eigenlich, dass die Sozialisierung vermutlich gar keinen so großen Effekt auf spätere innerartliche Konflikte Einfluss hat. Da scheinen doch andere Faktoren einen größeren Einfluss zu haben z.b. die Hund-Mensch Beziehung, wie hier angesprochen wurde. Es wird aber oft als Zeichen mangelnder Sozialisierung gesehen und das finde ich dahingehend problematisch, dass der Fokus im Training falsch gesetzt wird. Denn der Hund sei ja derjenige, der nicht gelernt haben soll mit Hunden zu kommunizieren. Natürlich sollen unsere Hunde nicht in einer Tierschutz Meute leben, sondern bei uns. Die Integration eines Hundes, der nach unserem Verständnis absolut nicht sozialisiert ist, in die Meute, ist aus meiner Sicht ein Hinweis darauf, dass die Sozialisierung eben nicht entscheidend für innerartliche Kommunikation ist. Jetzt will ich nicht sagen, dass man seinen Welpen isolieren soll. Überhaupt nicht! Innerartliche Kontakte sind ein soziales Grundbedürfniss, das definitiv entsprechen erfüllt gehört. Ich überlege nur, ob der Fokus verschoben oder an der falschen Stelle liegt. Desweiteren sollte man bei der Sozialisierung vielleicht auch auf andere Dinge achten. Wenn das Ziel ist, dass ein Hund entspannt an der Leine an anderen vorbei geht, ist der Fokus auf freie Spielgruppen vielleicht auch nicht richtig. Da lernt er ja das Gegenteil von dem Verhalten, dass man eigentlich erreichen möchte, wenn er nicht mehr klein und süß ist und zu jedem hin darf. Andererseits habe ich mehrfach gehört, man wolle keinen Junghund oder Erwachsenen Hund aufnehmen, weil man ja die Sozialisierungsphase verpasst hätte und diese so wichtig sei (jedem steht natürlich freu sich für einen Welpen zu entscheiden, da gibt es legitime Gründe die ich nicht kritisieren will). Diese "Hyperfokussierung" auf die Sozialisierung kann Folgen für das Training später haben und beeinflusst Menschen in ihrem Denken und Handeln. Das stelle ich ein bisschen in Frage. Mehr für mich selber, weil mein Fokus eben auch sehr stark auf die Sozialisierung bzw der verpassten Sozialisierung lag.
Ich denke, die Theorie zu den Sozialisierungsphasen hat ohne Frage einen berechtigten Kern. Aber mir fällt auf, dass es in der Wissenschaft immer wieder Konzepte gibt, die über Jahrzehnte hinweg stark betont, fast schon „verabsolutiert“, werden, ohne dass die kritischen Stimmen ausreichend Gehör finden. Ein gutes Beispiel dafür ist für mich die Bindungstheorie von Bowlby, sie wird in vielen psychologischen Kontexten nahezu inflationär zitiert, obwohl es mittlerweile auch fundierte Kritik daran gibt, etwa in Bezug auf soziale Schicht, kulturelle Unterschiede oder die langfristige Stabilität von Bindungsmustern.

Ich habe das Gefühl, dass es mit der Sozialisierungstheorie bei Hunden ähnlich läuft. Auch sie stammt ursprünglich aus wissenschaftlichem Kontext, wird aber in der Praxis manchmal zu absolut gesehen. Dabei ignoriert man häufig, wie flexibel Verhalten im Laufe des Lebens noch formbar ist, durch Beziehungserfahrungen, durch Umweltgestaltung und vor allem durch Training. Gerade wenn wir davon ausgehen, dass Sozialverhalten auch kontextbezogen und dynamisch ist, wird deutlich, dass man diese frühen Phasen nicht überhöhen sollte.

Was mir außerdem auffällt: Gerade bei diesen stark verabsolutierten Theorien wird die Verantwortung häufig ausgelagert, auf andere oder auf die Vergangenheit. Das schafft eine gewisse Entlastung. Wenn ich sage, „Mein Hund ist in der Welpenzeit nicht ausreichend sozialisiert worden, da kann man jetzt nichts mehr machen“, dann muss ich mich selbst nicht hinterfragen oder etwas an meiner Haltung oder meinem Umgang ändern. Ähnlich bei der Bindungstheorie: Wenn ich heute Bindungsschwierigkeiten habe, kann ich sagen, dass das an meiner Kindheit liegt, und dass meine Eltern schuld sind. Damit erscheint Veränderung fast unmöglich oder nicht notwendig, man bleibt in einer Art passiven Haltung. Ich glaube, gerade deshalb sind solche Theorien auch so beliebt, sie geben einfache Erklärungen und verschieben die Verantwortung.

Was ich problematisch finde, ist auch die selektive Herangehensweise: Während bei manchen Themen wie Rassezugehörigkeit oder Genetik extrem kritisch diskutiert wird, oft mit nachvollziehbarer Skepsis, wird anderen Theorien wie der Sozialisierungsphase oder klassischen Bindungstheorien eher unkritisch Glauben geschenkt. Das wirkt auf mich manchmal inkonsequent.

Und auch im menschlichen Bereich zeigt sich das: Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen aus niedrigeren sozialen Schichten häufiger unsicher-ambivalente Bindungsmuster zeigen, nicht unbedingt, weil ihre Eltern schlechtere Bindungspersonen waren, sondern weil soziale Bedingungen, Bildungschancen und Alltagsstressoren eine riesige Rolle spielen. Diese Faktoren wirken vielschichtig, und das, denke ich, lässt sich auch gut auf Hunde übertragen. Es ist nicht nur die frühe Sozialisierung, sondern das Gesamtsystem, in dem ein Hund lebt, das sein Verhalten langfristig prägt.
 
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Andreas
2. Juni 07:45
Begegnungsprobleme treten glaube ich meist viel später auf. Die, ich nenne es mal "klassische", Sozialisierungsphase ist ja mit etwa 18 Wochen beendet. Die meisten Hunde kriegen aber deutlich später Probleme mit Fremdhundebegegnungen. Das bestätigt ja eigenlich, dass die Sozialisierung vermutlich gar keinen so großen Effekt auf spätere innerartliche Konflikte Einfluss hat. Da scheinen doch andere Faktoren einen größeren Einfluss zu haben z.b. die Hund-Mensch Beziehung, wie hier angesprochen wurde. Es wird aber oft als Zeichen mangelnder Sozialisierung gesehen und das finde ich dahingehend problematisch, dass der Fokus im Training falsch gesetzt wird. Denn der Hund sei ja derjenige, der nicht gelernt haben soll mit Hunden zu kommunizieren. Natürlich sollen unsere Hunde nicht in einer Tierschutz Meute leben, sondern bei uns. Die Integration eines Hundes, der nach unserem Verständnis absolut nicht sozialisiert ist, in die Meute, ist aus meiner Sicht ein Hinweis darauf, dass die Sozialisierung eben nicht entscheidend für innerartliche Kommunikation ist. Jetzt will ich nicht sagen, dass man seinen Welpen isolieren soll. Überhaupt nicht! Innerartliche Kontakte sind ein soziales Grundbedürfniss, das definitiv entsprechen erfüllt gehört. Ich überlege nur, ob der Fokus verschoben oder an der falschen Stelle liegt. Desweiteren sollte man bei der Sozialisierung vielleicht auch auf andere Dinge achten. Wenn das Ziel ist, dass ein Hund entspannt an der Leine an anderen vorbei geht, ist der Fokus auf freie Spielgruppen vielleicht auch nicht richtig. Da lernt er ja das Gegenteil von dem Verhalten, dass man eigentlich erreichen möchte, wenn er nicht mehr klein und süß ist und zu jedem hin darf. Andererseits habe ich mehrfach gehört, man wolle keinen Junghund oder Erwachsenen Hund aufnehmen, weil man ja die Sozialisierungsphase verpasst hätte und diese so wichtig sei (jedem steht natürlich freu sich für einen Welpen zu entscheiden, da gibt es legitime Gründe die ich nicht kritisieren will). Diese "Hyperfokussierung" auf die Sozialisierung kann Folgen für das Training später haben und beeinflusst Menschen in ihrem Denken und Handeln. Das stelle ich ein bisschen in Frage. Mehr für mich selber, weil mein Fokus eben auch sehr stark auf die Sozialisierung bzw der verpassten Sozialisierung lag.
..Du sprichst von Hyperfokussierung auf die Sozialisierung..

Nun.. gibt es denn irgendein Erlebnis des Welpen, Junghundes, erwachsenen Hundes, das nichts mit Sozialisation zu tun hat?

Ich stelle das in Frage.. zB in jedem Welpen/ Junghund steckt "drin" seine Umwelt (Hunde, Menschen, Tiere usw.) mit seinen Sinnen, hündisch zu untersuchen.
Ihm das abgewöhnen zu müssen (unsere Umwelt verlangt einen an menschliche Vorstellungen angepassten Hund).. ist eine Herausforderung, in der sich viele Fehler einschleichen können.

Ein isoliert misshandelter Junghund hat seine Anlagen noch, da sie nicht an menschliche Bedürfnisse angepasst wurden..
Solche Beispiele sind schrecklich, da die grausamste Misshandlung, für mich, die Nichtbeachtung des sozialen Wesens.. Hund.. ist.

Ich widerspreche höflich den Hundehaltern, die sagen.. Mein Hund will keinen Kontakt zu "Fremden".
Nicht, zumindest kurz, zu checken.. Wer das ist.. halte ich für, durch den Menschen angelerntes Verhalten...

Ohne dies jetzt werten zu wollen..
 
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Susa
2. Juni 07:48
Ich denke, die Theorie zu den Sozialisierungsphasen hat ohne Frage einen berechtigten Kern. Aber mir fällt auf, dass es in der Wissenschaft immer wieder Konzepte gibt, die über Jahrzehnte hinweg stark betont, fast schon „verabsolutiert“, werden, ohne dass die kritischen Stimmen ausreichend Gehör finden. Ein gutes Beispiel dafür ist für mich die Bindungstheorie von Bowlby, sie wird in vielen psychologischen Kontexten nahezu inflationär zitiert, obwohl es mittlerweile auch fundierte Kritik daran gibt, etwa in Bezug auf soziale Schicht, kulturelle Unterschiede oder die langfristige Stabilität von Bindungsmustern. Ich habe das Gefühl, dass es mit der Sozialisierungstheorie bei Hunden ähnlich läuft. Auch sie stammt ursprünglich aus wissenschaftlichem Kontext, wird aber in der Praxis manchmal zu absolut gesehen. Dabei ignoriert man häufig, wie flexibel Verhalten im Laufe des Lebens noch formbar ist, durch Beziehungserfahrungen, durch Umweltgestaltung und vor allem durch Training. Gerade wenn wir davon ausgehen, dass Sozialverhalten auch kontextbezogen und dynamisch ist, wird deutlich, dass man diese frühen Phasen nicht überhöhen sollte. Was mir außerdem auffällt: Gerade bei diesen stark verabsolutierten Theorien wird die Verantwortung häufig ausgelagert, auf andere oder auf die Vergangenheit. Das schafft eine gewisse Entlastung. Wenn ich sage, „Mein Hund ist in der Welpenzeit nicht ausreichend sozialisiert worden, da kann man jetzt nichts mehr machen“, dann muss ich mich selbst nicht hinterfragen oder etwas an meiner Haltung oder meinem Umgang ändern. Ähnlich bei der Bindungstheorie: Wenn ich heute Bindungsschwierigkeiten habe, kann ich sagen, dass das an meiner Kindheit liegt, und dass meine Eltern schuld sind. Damit erscheint Veränderung fast unmöglich oder nicht notwendig, man bleibt in einer Art passiven Haltung. Ich glaube, gerade deshalb sind solche Theorien auch so beliebt, sie geben einfache Erklärungen und verschieben die Verantwortung. Was ich problematisch finde, ist auch die selektive Herangehensweise: Während bei manchen Themen wie Rassezugehörigkeit oder Genetik extrem kritisch diskutiert wird, oft mit nachvollziehbarer Skepsis, wird anderen Theorien wie der Sozialisierungsphase oder klassischen Bindungstheorien eher unkritisch Glauben geschenkt. Das wirkt auf mich manchmal inkonsequent. Und auch im menschlichen Bereich zeigt sich das: Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen aus niedrigeren sozialen Schichten häufiger unsicher-ambivalente Bindungsmuster zeigen, nicht unbedingt, weil ihre Eltern schlechtere Bindungspersonen waren, sondern weil soziale Bedingungen, Bildungschancen und Alltagsstressoren eine riesige Rolle spielen. Diese Faktoren wirken vielschichtig, und das, denke ich, lässt sich auch gut auf Hunde übertragen. Es ist nicht nur die frühe Sozialisierung, sondern das Gesamtsystem, in dem ein Hund lebt, das sein Verhalten langfristig prägt.
Ich denke es ist wichtig, dass man nicht aufgibt und weiter versucht, mit seinem Hund an den Baustellen zu arbeiten. Vielleicht wird man nie 100% erreichen oder nie einen "normalen" Hund haben, aber man kann definitiv Fortschritte machen.

Ich sehe es hier immer wieder, wie gerade Hunde aus dem Auslandstierschutz sich hier wunderbar einleben und auch gut in der Großstadt zurechtkommen. Und viele von denen hockten als Welpen wahrscheinlich im Shelter und haben kaum was kennengelernt.