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Julia 🐾Nero
Einleitungs-Beitrag
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zuletzt 18. Juli

Das Sozialisierungs-Paradox

Ich möchte mal meine aktuellen Gedanken teilen und gerne andere Meinungen einholen. Derzeit folge ich Tierschützern, die in Bosnien-Herzegowina Hunde aus Zwingern und von der Kette retten. Absolut herzzerreißend, Welpen werden mit wenigen Wochen an 2 Meter und kürzere Ketten gelegt und leben ihr Leben lang so. Oft auf Matsch und Schlamm, während 1 Meter weiter Gras und Wiese ist, an die sie nie rankommen... Aber darum geht es eigentlich nicht in diesem Thread. Es geht darum, dass diese Hunde mit 5 Jahren oder älter ziemlich problemlos und schnell nach Rettung in große Hundegruppen integriert werden können. Mit Hunden aller Größen, Fellfarben, kupierten Hunden und Plattnasen. Es funktioniert erstaunlich gut. Das widerspricht aber irgendwie der weit verbreiteten Sozialisierungstheorie, in der Hunde möglichst früh mit möglichst vielen verschiedenen Hunden Kontakt haben müssen um "hündisch" zu lernen. Verpasst man das sind innerartliche Konflikte vorprogrammiert, weil die Hunde keine angemeassen Kommunikation gelernt haben sollen und die "Resozialisierung" ein langer und steiniger Weg. Wie passt das zusammen? Gibt es eine Hyperfokussierung auf die sogenannte Sozialisierung und sind wir dadurch möglicherweise blind für andere Faktoren, die tatsächlich zu Unverträglichkeiten und innerartlicher Aggression führen? Denn es scheinen auch die Hunde, die brav Welpenstunden, Spielgruppen, Junghundekurse und Social Walks gemacht haben Probleme mit Artgenossen zu entwickeln. Dennoch wird es auf mangelnde oder falsche Sozialisierung geschoben. Ist unser Verständnis von Sozialisierung (das aktuell durch Hundeschulen geprägt ist) einfach komplett falsch? Wieso können Ketttenhunde perfekt hündisch, obwohl sie nie mit Artgenossen in Kontakt waren und unsere Hundeschulenhunde nicht?
 
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Sina
1. Juni 09:19
Der eigentliche Gedanke der sich mir aufdrängt ist: was verstehen wir Menschen unter Sozialisierung und was ist für den Hund überhaupt notwendig? Ich lese hier zB vom Mobbing. Ist das nicht eine sehr menschliche Sicht? Würde es im Rudel einen Hund interessieren ob ein anderer "gemobbt" wird? Oder würde solch ein Verhalten nicht als "normal" angesehen? Könnte es sein, dass wir Menschen durch unsere Vorstellung diese Verhaltensweisen "überdramatisieren" und damit erst zum Problem machen? Fakt ist aber: die meisten Hunde müssen bei uns Menschen leben und klar kommen, nicht in einem Rudel.
Das mit dem Mobbing finde ich auch sehr vermenschlicht.
Die wenigsten Menschen befassen sich wohl richtig mit der Körpersprache der Hunde in einer Gruppe.

Früher hat man überall "Spiel" gesehen, wo keines war, dann würde darüber viel aufgeklärt und nun wird auf einmal überall Mobbing gesehen.

Oft ist es doch so, dass ein Hund der sich unhöflich in der Gruppe verhält, eben auch von dieser gemaßregelt, oder kurzzeitig verjagt wird. Daraus könnte er wunderbar lernen, wenn nicht die Besitzer sofort "Mobbing" schreien würden, und ihn aus der Situation "retten" wollen.

Womit ich nicht sagen will, dass es nicht auch wirklich Hunde gibt, die es immer schwierig haben, und oft Opfer der Stärkeren sind, die man auch schützen muss. Aber ich würde behaupten, das ist ungefähr so wie mit dem "Spielen": Es kommt vor, aber lange nicht so oft, wie man es vermutet.
 
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Karsten
1. Juni 09:20
Der eigentliche Gedanke der sich mir aufdrängt ist: was verstehen wir Menschen unter Sozialisierung und was ist für den Hund überhaupt notwendig? Ich lese hier zB vom Mobbing. Ist das nicht eine sehr menschliche Sicht? Würde es im Rudel einen Hund interessieren ob ein anderer "gemobbt" wird? Oder würde solch ein Verhalten nicht als "normal" angesehen? Könnte es sein, dass wir Menschen durch unsere Vorstellung diese Verhaltensweisen "überdramatisieren" und damit erst zum Problem machen? Fakt ist aber: die meisten Hunde müssen bei uns Menschen leben und klar kommen, nicht in einem Rudel.
Genau das ist der richtige Ansatz.
Ich glaube eher wir als HH verursachen durch Training/Dressur/Konditionierung mehr Probleme in der Hundekommunikation, als das wir etwas für den Hund regeln. Ich denke wir HH betrachten den Hund viel zu sehr aus menschlicher Sicht und vergessen dabei, dass die Hundesprache weltweit einheitlich ist und offensichtlich genetisch verankert ist. Ich empfehle hierzu das Buch "Hundeverstand" von John Bradshaw, welches meiner Meinung nach sehr gut darlegt, wie Hunde die Welt wahrnehmen (und was sie eben können und was nicht).
 
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Bettina
1. Juni 09:22
Mein "kampfhund" spiegelt stark...das musste ich ihr nicht antrainieren...bei ihr ist es egal ob hund oder mensch in gewisser gefühlslage...durch diese schlechte/ungünstige Verhaltensweise anderer versuche ich fremdkontakte grundsätzlich zu meiden...mich zu erklären habe ich lange versucht jetzt aber aufgegeben...denn oft...nein eigentlich immer wird MEIN Hund dann als asozial eingestuft...sie ist jetzt 4 und ich weiß was geht und was nicht...wir haben einen zweithund und einige Spielpartner die sie von welpe an kennt...klar bin ich da auch sehr sensitiv...viele behaupten ja der Hund wird wie sein Halter...
 
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Celine
1. Juni 09:48
Hündische Kommunikation liegt in ihren Genen. Es ist die angeborene Kommunikation.
Allerdings verlernen unsere Hunde in Deutschland das gerne auf Grund der Besitzer oder sonstigen Fehlprägungen.

In Kroatien habe ich das auf dem Dorf selbst erlebt. Der Hund ist Hund und man macht sich nicht so viele Gedanken. In Deutschland wird eine Wissenschaft daraus gemacht. Am besten geht das Training nach Buch oder Video Tutorial aber nie nach Intuition/ Bauchgefühl.

Noch dazu sind Auslandshunde an der Kette auch oft devot. Sie konnten nie viel kennenlernen.
Tyson zum Beispiel wurde auf dem Balkon gehalten (in Deutschland) und wurde misshandelt.
Er ist der liebste Hund gegenüber allem. Er ist aber dadurch auch sehr devot/ unsicher und fügt sich dadurch automatisch schneller.
 
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Kristina
1. Juni 09:54
Ich wundere mich auch oft über die Rechtvertigungswut vieler HH (hab ich früher auch gemacht 🤷).

Mein Hund bellt, mein Hund maßregelt, mein Hund beschützt (immer von mir händelbar). Alles gern laut, ruppig und mir früher peinlich. Aber warum? Nur weil *ich* meine so soll sie nicht sein? Hab ich mir ab gewöhnt, ich informiere lediglich andere HH. Da kann eine Begegnung klappen oder halt nicht. Spielen will meine kaum mit anderen Hunden, warum auch, nur weil ich das möchte? Für sie scheint das Spielen mit mir zu reichen.

Ich sag dann immer: meine ist erwachen, die hat da kein Interesse.

Auch wird mir persönlich viel zu viel menschliches in das Verhalten interpretiert. Es gab mal die Aussage: der Hund lebe im hier und jetzt.
Woher kommen dann all die Rechtfertigungen, das ein Hund so sei weil: er aus dem Ausland sei, aus schlechten Verhältnissen, mal gebissen oder gejagdt wurde...und das noch Jahre später eine Auswirkung habe?

In einem reinen Hunderudel würde das wohl keinen jucken.
 
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Katrin
1. Juni 09:58
Vielleicht sollte man erstmal auf einen gemeinsamen Nenner kommen was Sozialisierung überhaupt ist.

Für mich bedeutet es das ich meinem Hund an meinen Alltag und an mein Umfeld gewöhne. Das beinhaltet natürlich auch Kommunikation mit Menschen und Tier. Aber ich muss dem Hund nicht jede Situation, jede Begegnung erstmal beibringen. Lernen findet im Alltag und im Zusammenleben statt. Durch Beobachtung, durch Versuche, durch das setzen von Grenzen.

Meine war weder in Welpengruppen, noch in der Hundeschule (bis auf 3 Stunden). Einzelhund ist sie auch noch. Social Walk Angebote haben wir auch nie genutzt. Trotzdem ist sie das was viele als sehr sozial beschreiben würden.
 
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Julia 🐾Nero
1. Juni 10:04
Spannendes Thema. Ich biete als Hundetrainerin eine Art der Resozialisierung. Angeblich unverträgliche Hunde integrieren wir zuerst in meine Gruppe, wo sie ganz neue Erfahrungen machen können, nämlich dass sie die Konfrontation mit Artgenossen aushalten müssen, weil keine Leine sie blockiert oder schützt, je nach Motivation für aggressiv anmutendes Verhalten. Kein Mensch, der Einfluss nimmt, keine gestressten Gefühle drum herum. Es dauert meist keine 5 Minuten, bis alle friedlich miteinander laufen. Diese Hunde fallen immer wieder damit auf, dass sie zu Beginn ihre Besitzer verteidigen, es nicht dulden, wenn diese meine Hunde streicheln, dass sie unruhig werden, wenn es mal ein paar Minuten nicht weiter geht und oft auch dadurch, dass sie Ressourcen verteidigen. Und dann, wenn sie mal ein paar Wochen bis Monate 1x/Woche mitlaufen, werden sie langsam wieder ganz normale Hunde. Sie fangen an, an Hundebegegnungen (natürlich nur mit passenden Hunden) teilzunehmen und bekommen Feedback, das sie verstehen. Es geht natürlich auch darum, dass die Menschen lernen, wie sich ihr Hund an ihnen orientieren kann und wie sie Grenzen setzen können, aber dazu gehört für mich auch, dass sie ihren Hund mal ganz anders erleben, nämlich dass er sehr wohl kann und auch braucht, wovor sie lange solche Angst hatten, nämlich Kontakt zu Artgenossen. Ganz ohne menschlichen Einfluss, der meist eher emotionaler Natur ist, was die Hunde aber natürlich extrem wahrnehmen. Also: ja, ich stimme absolut zu, dass der Einfluss des Menschen einen großen Einfluss auf das Sozialverhalten unserer Hunde hat, aber es bringt nichts, das zu verurteilen, denn wir alle stehen woanders, haben unterschiedliche Möglichkeiten, unsere Emotionen zu kontrollieren, wir alle sind unterschiedlich erzogen und sozialisiert worden. Aber wir alle können ruhig und ohne einzugreifen Hunden zusehen, ohne hysterisch zu werden, wenn es zu Konflikten kommt, und daraus eine Menge lernen. Und hier spreche ich nicht von wirklich aggressiven Hunden sondern von Hunden, die aus Unsicherheit oder mangelnder Erziehung und Erfahrung im Umgang mit Artgenossen an der Leine pöbeln und deshalb von diesen isoliert wurden. Besonders ehemalige Straßenhunde leiden darunter, plötzlich an der Leine Frontalbegegnungen aushalten zu müssen und keine Anleitung seitens des Menschen zu bekommen, außer dass der vielleicht ebenfalls versucht, andere Hunde panisch auf Distanz zu halten und dann auch noch mit anderen Hundehaltern "Krieg" anfängt, weil der seinen Hund zu nah ran lässt.... Und einer meiner Co-Trainer, der souveränste in meiner Truppe, ist übrigens selber ein ehemaliger Kettenhund.
Wie sollte denn aus deiner Sicht als Trainerin und deiner Erfahrung mit als unverträglich eingestuften Hunden eine gute Sozialisierung aussehen?
Und was machen aus deiner Sicht deine Kollegen und Kunden häufig falsch?

Liegt der Fokus bei der Sozialisierung im klassischen Sinne zu sehr darauf, dass der Hund etwas lernen soll (was er vermutlich schon kann) und zu wenig darauf, dass der Mensch etwas lernen soll? Also wie verhalte ich mich meinem Hund gegenüber, wenn er mit Artgenossen in Kontakt tritt?
Fehlt es sozusagen an der "Sozialisierung" des Halters? Also dass dieser Kommunikation lernt und nicht nur der Hund?
 
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Julia 🐾Nero
1. Juni 10:21
Naja, das heißt ja nicht, dass du alles falsch gemacht hast. Du hast ja eine ganz andere Beziehung zu ihm als die Trainerin. Und wenn man seine Rasse berücksichtigt, wird das Verhalten vermutlich stark sozialmotiviert geprägt sein.
Da hast du natürlich Recht, wir haben auch viel erreicht und viele Fortschritte gemacht.

Ich finde aber du sprichst etwas super wichtiges an, und zwar die Sozialmotivation meines Hundes MIR gegenüber, wenn er mit anderen Hunden interagiert.
Das wäre zum Beispiel ein äußerst wichtiger Faktor, der aus meiner Sicht in der klassischen Sozialisierungstheorie zu kurz kommt oder gar keine Rolle spielt.
Diese beschränkt sich meiner Meinung nach zu sehr auf die Interaktion und Kommunikation zwischen Hunden.

Wenn ein Hund zum Beispiel meint er müsse seinen Halter beschützen, dann ist es vermutlich ziemlich irrelevant, wie viele und wie häufig er Kontakte zu anderen Hunden in der Welpengruppe hatte.
Denn der Konflikt besteht in der Mensch-Hund-Hund Konstellation und nicht in der Hund-Hund Beziehung.

Es wird aber oft genauso dargestellt. Hätte der Hund nur genug Kontakt und Interaktion mit anderen Hunden gehabt, möglichst vielen verschiedenen, dann würden später keine Hundekonflikte entstehen.
 
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Svenja
1. Juni 10:56
Wie sollte denn aus deiner Sicht als Trainerin und deiner Erfahrung mit als unverträglich eingestuften Hunden eine gute Sozialisierung aussehen? Und was machen aus deiner Sicht deine Kollegen und Kunden häufig falsch? Liegt der Fokus bei der Sozialisierung im klassischen Sinne zu sehr darauf, dass der Hund etwas lernen soll (was er vermutlich schon kann) und zu wenig darauf, dass der Mensch etwas lernen soll? Also wie verhalte ich mich meinem Hund gegenüber, wenn er mit Artgenossen in Kontakt tritt? Fehlt es sozusagen an der "Sozialisierung" des Halters? Also dass dieser Kommunikation lernt und nicht nur der Hund?
Schwierige Frage, so ganz pauschal kann man das nicht sagen. Es benötigt in meinen Augen mehr Zeit und mehr Gelassenheit. Menschen sollten mehr beobachten, was wirklich passiert, als sich den eigenen Ängsten und Szenarien, was passieren KÖNNTE hinzugeben.
Heutzutage wird mit Fachbegriffen um sich geschmissen, Hundeverhalten wird so gedeutet, wie man es irgendwo gelesen hat und auf Situationen übertragen, die aber vielleicht ganz anders sind, als man annimmt, weil so viele Menschen das Verhalten von Hunden nicht richtig deuten können. Und der wichtigste Punkt ist, dass Menschen nicht verstehen, dass Aggression eine Form der Kommunikation ist. Uns Menschen wird von Tag eins an beigebracht, Aggression ist etwas schlechtes, moralisch verwerflich. Aber Hunde sind keine Menschen, haben keine Moralvorstellung und sie leben nicht in einer Demokratie. Stichwort Vermenschlichung. Daher würde ich zustimmen, dass der Mensch zuerst lernen muss, wie Hunde WIRKLICH sind, und das funktioniert nur über Beobachtung von hündischer Kommunikation. Das funktioniert am besten, wenn Hunde, die fit und souverän im Sozialverhalten sind, diese Situationen begleiten und als Vorbilder fungieren können. Erst dann, wenn man seinen Hund unter anderen, sozial sicheren Hunden erlebt hat, kann man anfangen, heraus zu arbeiten, welches Verhalten man abbricht und welches man einfach laufen lassen kann. Ohne Konfrontationen keine Weiterentwicklung, ohne soziale Interaktion keine soziale Kompetenz. Meist müssen aber auch die Menschen mehr soziale Kompetenz lernen, auch anderen Haltern gegenüber. Klar ist es ein riesiges Problem, wenn mein Hund pöbelt und dann ein frei laufender Hund angerannt kommt, aber das wird sich niemals vermeiden lassen, zumindest nicht in großen Städten wie unserer. Und da ist es doch cleverer und souveräner, den eigenen Hund fit zu machen, mit sowas umzugehen, eine gewisse Selbstwirksamkeit zu erlernen und ruhig zu bleiben und das nette Gespräch zu suchen, anstatt selber hoch zu fahren und dem Hund Wut, Stress und Angst in sozialen Kontakten (egal ob gewünscht oder nicht) vorzuleben.

Und ganz wichtig : Mein Konzept funktioniert in dieser Form nicht bei jedem Hund, daher muss man vorher heraus finden, warum der Hund pöbelt. Manche Hunde müssen ins Einzeltraining, bevor sie soweit sind, weil es im häuslichen Bereich erstmal Erziehung und anderen Umgang benötigt. Und letztendlich ist nicht jede Form der Aggression durch Kontakt zu Artgenossen zu beheben.
Zusammenfassend würde ich sagen, dass die Menschen sich mehr Zeit und Gelassenheit fürs Training nehmen müssen und das klappt super in wöchentlichen Treffen, in denen man als Trainer mit gut sozialisierten bzw. souverän und geübt agierenden Hunden als Vorbild agiert.
 
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M.
1. Juni 11:01
Nach aktueller Literatur und meiner Einschätzung spielen hier mehrere Faktoren jenseits der „frühwelplichen“ Prägung eine Rolle:

Viele Verhaltensweisen der innerartlichen Kommunikation sind dem Hund angeboren. Signale wie Beschwichtigung, Spielaufforderung oder Unterwerfung treten instinktiv auf. In der Fachliteratur wird beschrieben, dass Welpen bereits durch den Kontakt mit Mutter und Wurfgeschwistern in den ersten Lebenswochen ein Basis-Repertoire an Hundesprache entwickeln. Hat ein Hund also wenigstens bis zur Trennung von der Mutter normal mit anderen Hunden interagiert, ist die Artgenossen-Erkennung und grundlegende Kommunikation vermutlich vorhanden. Die beobachteten Hunde „sprechen Hund“, weil sie es in sich haben, auch ohne spätere Übung. Unterschiede im Sozialverhalten sind darüber hinaus teils rasse- und linienbedingt: Wissenschaftliche Auswertungen von über 14.000 Hunden zeigen, dass Eigenschaften wie Verträglichkeit oder Aggressionsneigung zu einem beträchtlichen Teil genetisch mitbestimmt sind. So gibt es Hundepopulationen, die von Haus aus eine höhere Reizschwelle und Sozialverträglichkeit aufweisen. Hunde aus freilaufenden Straßenhunde-Populationen etwa entstammen oft einem natürlichen Selektionsprozess, bei dem extreme Aggressivität ein Nachteil ist, sehr unverträgliche Tiere würden in einer solchen Umgebung kaum lange überleben oder sich fortpflanzen. Dadurch begünstigt die Genetik dieser Populationen möglicherweise ein gelasseneres Sozialverhalten.

Ironischerweise kann aber auch die vollständige Isolation in schlechter Haltung bedeuten, dass der Hund nie schlechte Erfahrungen mit Artgenossen gemacht hat. Ihm fehlen also Erlebnisse wie Attacken, Mobbing oder Konkurrenzkämpfe, die bei manchen „normal“ sozialisierten Hunden spätere Unverträglichkeiten auslösen. Ein isoliert gehaltener Hund begegnet fremden Hunden eventuell unvoreingenommen und naiv freundlich, frei von Misstrauen oder erlerntem Verteidigungsverhalten. Zudem werden viele dieser geretteten Hunde behutsam in eine bestehende, stabile Hundegruppe eingeführt (oft ein Rudel in einer Pflegestelle oder Auffangstation). Dort können sie sich an den souveränen Artgenossen orientieren und sozial dazulernen. Sie passen ihr Verhalten an, imitieren bis zu einem gewissen Grad die Kommunikationsmuster der anderen Hunde und erhalten direktes Feedback auf eigenes Verhalten. Diese Form des sozialen Lernens, quasi ein Crashkurs im „Hundsein“ innerhalb einer gefestigten Gruppe, kann erstaunlich effektiv sein. Die Hunde verfeinern ihre Signale und Reaktionen durch die Interaktion mit den Gruppenmitgliedern. In der aktuellen Verhaltensforschung ist bekannt, dass Spiel und positive Interaktion unter Hunden eine wichtige Rolle für soziale Kompetenz spielen. Auch wenn ein Hund in seiner Vorgeschichte kaum Gelegenheit zum Spiel hatte, kann die neue Gruppenstruktur solche Verhaltensweisen reaktivieren und fördern. Einige Experten vermuten sogar, dass Hunde in Menschenhand teils falsche Kommunikationsmuster entwickeln, weil wir Halter ungewollt eingreifen oder Stress erzeugen. Im kontrastierenden Szenario der Straßenhunde fehlt dieser menschliche Einfluss. Interaktionen laufen freier und mit mehr körperlicher Kommunikationssprache ab (ohne Leine, ohne beengten Raum), was Missverständnisse reduziert. So zeigt sich, dass auch Hunde ohne Welpenschule ein ausgezeichnetes Sozialverhalten an den Tag legen können, wenn die Umgebung stimmt.

Eng damit verknüpft sind die Rahmenbedingungen, unter denen die Tiere aufeinandertreffen. Auf Gnadenhöfen leben die Hunde oft in großen offenen Arealen im Verbund. Hier gibt es Raum, Rückzugsmöglichkeiten und konstante Gesellschaft, Faktoren, die aggressive Auseinandersetzungen dämpfen. Rollen klären sich häufig von selbst, ohne dass Hunde durch beengte Verhältnisse oder Ressourcenstress zum Kampf gezwungen werden. Zum Vergleich: In städtischen Umgebungen oder bei begrenztem Platz (Wohnung, Hundewiese) entstehen Konflikte schneller, etwa durch Leinenaggression oder Ressourcenverteidigung. An der Leine können Hunde ihre normale Kommunikation kaum ausleben, Missverständnisse und Frust entstehen leichter. Forschung zeigt, dass Begegnungen an der Leine seltener freundlich ablaufen, frei laufend gehen Hunde Interaktionen eher aus dem Weg, wenn sie nicht sozial interessiert sind. Die im Ausland geretteten Hunde erleben ihre ersten echten Sozialkontakte meist ohne Leine und unter Aufsicht, was stressfreieres Kennenlernen ermöglicht. Weiterhin sind die Hunde in der Gruppe häufig kastriert, was das Aggressionspotential (insbesondere bei Rüden untereinander) verringern kann. Auch das generelle Lebensumfeld spielt eine Rolle: Ein Hund, der vorher nur Schlamm, Hunger und Gewalt kannte, findet sich nun plötzlich in Sicherheit, mit regelmäßiger Fütterung und sozialer Wärme unter Artgenossen. Dieses Stressgefälle, die drastische Verbesserung, kann dazu führen, dass der Hund eher entspannt und dankbar-zurückhaltend auftritt (ohne dies romantisieren zu wollen). Viele dieser Hunde wirken anfangs fast demütig oder vorsichtig, was im Gruppengefüge Aggressionen vorbeugt. Ihr neues Rudel bietet ihnen Sicherheit und Orientierung, wodurch sie wenig Anlass haben, Streit zu suchen.

Hunde aus lang andauernder Isolation oder Misshandlung haben meist gelernt, Frust auszuhalten, notgedrungen. Ein Kettenhund konnte nie frei zu etwas hin, Wünsche blieben unerfüllt. Paradoxerweise führt dieses Erleben oft zu einer erhöhten Fsrustrationstoleranz. Solche Hunde reagieren nicht sofort gereizt, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf geht, weil sie es gewohnt sind, zu warten oder zu resignieren.