Nach aktueller Literatur und meiner Einschätzung spielen hier mehrere Faktoren jenseits der „frühwelplichen“ Prägung eine Rolle:
Viele Verhaltensweisen der innerartlichen Kommunikation sind dem Hund angeboren. Signale wie Beschwichtigung, Spielaufforderung oder Unterwerfung treten instinktiv auf. In der Fachliteratur wird beschrieben, dass Welpen bereits durch den Kontakt mit Mutter und Wurfgeschwistern in den ersten Lebenswochen ein Basis-Repertoire an Hundesprache entwickeln. Hat ein Hund also wenigstens bis zur Trennung von der Mutter normal mit anderen Hunden interagiert, ist die Artgenossen-Erkennung und grundlegende Kommunikation vermutlich vorhanden. Die beobachteten Hunde „sprechen Hund“, weil sie es in sich haben, auch ohne spätere Übung. Unterschiede im Sozialverhalten sind darüber hinaus teils rasse- und linienbedingt: Wissenschaftliche Auswertungen von über 14.000 Hunden zeigen, dass Eigenschaften wie Verträglichkeit oder Aggressionsneigung zu einem beträchtlichen Teil genetisch mitbestimmt sind. So gibt es Hundepopulationen, die von Haus aus eine höhere Reizschwelle und Sozialverträglichkeit aufweisen. Hunde aus freilaufenden Straßenhunde-Populationen etwa entstammen oft einem natürlichen Selektionsprozess, bei dem extreme Aggressivität ein Nachteil ist, sehr unverträgliche Tiere würden in einer solchen Umgebung kaum lange überleben oder sich fortpflanzen. Dadurch begünstigt die Genetik dieser Populationen möglicherweise ein gelasseneres Sozialverhalten.
Ironischerweise kann aber auch die vollständige Isolation in schlechter Haltung bedeuten, dass der Hund nie schlechte Erfahrungen mit Artgenossen gemacht hat. Ihm fehlen also Erlebnisse wie Attacken, Mobbing oder Konkurrenzkämpfe, die bei manchen „normal“ sozialisierten Hunden spätere Unverträglichkeiten auslösen. Ein isoliert gehaltener Hund begegnet fremden Hunden eventuell unvoreingenommen und naiv freundlich, frei von Misstrauen oder erlerntem Verteidigungsverhalten. Zudem werden viele dieser geretteten Hunde behutsam in eine bestehende, stabile Hundegruppe eingeführt (oft ein Rudel in einer Pflegestelle oder Auffangstation). Dort können sie sich an den souveränen Artgenossen orientieren und sozial dazulernen. Sie passen ihr Verhalten an, imitieren bis zu einem gewissen Grad die Kommunikationsmuster der anderen Hunde und erhalten direktes Feedback auf eigenes Verhalten. Diese Form des sozialen Lernens, quasi ein Crashkurs im „Hundsein“ innerhalb einer gefestigten Gruppe, kann erstaunlich effektiv sein. Die Hunde verfeinern ihre Signale und Reaktionen durch die Interaktion mit den Gruppenmitgliedern. In der aktuellen Verhaltensforschung ist bekannt, dass Spiel und positive Interaktion unter Hunden eine wichtige Rolle für soziale Kompetenz spielen. Auch wenn ein Hund in seiner Vorgeschichte kaum Gelegenheit zum Spiel hatte, kann die neue Gruppenstruktur solche Verhaltensweisen reaktivieren und fördern. Einige Experten vermuten sogar, dass Hunde in Menschenhand teils falsche Kommunikationsmuster entwickeln, weil wir Halter ungewollt eingreifen oder Stress erzeugen. Im kontrastierenden Szenario der Straßenhunde fehlt dieser menschliche Einfluss. Interaktionen laufen freier und mit mehr körperlicher Kommunikationssprache ab (ohne Leine, ohne beengten Raum), was Missverständnisse reduziert. So zeigt sich, dass auch Hunde ohne Welpenschule ein ausgezeichnetes Sozialverhalten an den Tag legen können, wenn die Umgebung stimmt.
Eng damit verknüpft sind die Rahmenbedingungen, unter denen die Tiere aufeinandertreffen. Auf Gnadenhöfen leben die Hunde oft in großen offenen Arealen im Verbund. Hier gibt es Raum, Rückzugsmöglichkeiten und konstante Gesellschaft, Faktoren, die aggressive Auseinandersetzungen dämpfen. Rollen klären sich häufig von selbst, ohne dass Hunde durch beengte Verhältnisse oder Ressourcenstress zum Kampf gezwungen werden. Zum Vergleich: In städtischen Umgebungen oder bei begrenztem Platz (Wohnung, Hundewiese) entstehen Konflikte schneller, etwa durch Leinenaggression oder Ressourcenverteidigung. An der Leine können Hunde ihre normale Kommunikation kaum ausleben, Missverständnisse und Frust entstehen leichter. Forschung zeigt, dass Begegnungen an der Leine seltener freundlich ablaufen, frei laufend gehen Hunde Interaktionen eher aus dem Weg, wenn sie nicht sozial interessiert sind. Die im Ausland geretteten Hunde erleben ihre ersten echten Sozialkontakte meist ohne Leine und unter Aufsicht, was stressfreieres Kennenlernen ermöglicht. Weiterhin sind die Hunde in der Gruppe häufig kastriert, was das Aggressionspotential (insbesondere bei Rüden untereinander) verringern kann. Auch das generelle Lebensumfeld spielt eine Rolle: Ein Hund, der vorher nur Schlamm, Hunger und Gewalt kannte, findet sich nun plötzlich in Sicherheit, mit regelmäßiger Fütterung und sozialer Wärme unter Artgenossen. Dieses Stressgefälle, die drastische Verbesserung, kann dazu führen, dass der Hund eher entspannt und dankbar-zurückhaltend auftritt (ohne dies romantisieren zu wollen). Viele dieser Hunde wirken anfangs fast demütig oder vorsichtig, was im Gruppengefüge Aggressionen vorbeugt. Ihr neues Rudel bietet ihnen Sicherheit und Orientierung, wodurch sie wenig Anlass haben, Streit zu suchen.
Hunde aus lang andauernder Isolation oder Misshandlung haben meist gelernt, Frust auszuhalten, notgedrungen. Ein Kettenhund konnte nie frei zu etwas hin, Wünsche blieben unerfüllt. Paradoxerweise führt dieses Erleben oft zu einer erhöhten Fsrustrationstoleranz. Solche Hunde reagieren nicht sofort gereizt, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf geht, weil sie es gewohnt sind, zu warten oder zu resignieren.