Ich hab pathologisch allerdings eben nicht isoliert oder als reine Normabweichung betrachtet, sondern gemeint, dass es auch erlernt oder anerzogen - also eingebettet in Lebenskontext und Lerngeschichte - sein kann und dass es eine nennenswerte Komponente von Beeinträchtigung/Belastung des Individuums oder seiner Umwelt beinhalten müsste.
Ich sehe auch keinen Widerspruch zwischen Nachvollziehbarkeit oder dem Erkennen eines (Sekundär)Nutzens und einer Einstufung als pathologisch.
Dafür bin ich etwas skeptisch, ob es für einen Hof- oder Herdenschutzhund funktional oder ressourcenschonend wäre, zB undifferenziert auf Artgenossen loszugehen, von denen keinerlei erkennbare Bedrohung ausgeht...
Ich sage keineswegs, dass etwas pathologisch ist, nur weil es nicht einer Norm entspricht.
Aber es ist auch nicht alles gesund, nur weil man eine Ursache oder einen kontextuellen Sinn nachvollziehen kann.
Ich sehe keinen Widerspruch zu deiner differenzierten Sichtweise – im Gegenteil: Auch ich halte Kontext, Lerngeschichte und die Auswirkungen auf Individuum und Umwelt für entscheidend.
Allerdings plädiere ich für eine noch höhere Schwelle bei der Pathologisierung von Verhalten. Für mich reicht nicht allein die Betrachtung von Beeinträchtigung oder Auffälligkeit selbst: Erst die Zusammenschau mehrerer Kriterien – insbesondere erheblicher Leidensdruck + fehlende Modulierbarkeit trotz veränderter Bedingungen + der Verlust funktionaler Einbindung ins Lebensumfeld – dann erscheint mir eine pathologische Einordnung angemessen.
Mir ist wichtig, dass problematisches Verhalten nicht vorschnell als krankhaft etikettiert wird. Eine Diagnose kann zwar Klarheit schaffen und gezielte Unterstützung ermöglichen, birgt aber auch Risiken: Stigmatisierung, Engführung, die Reduktion individueller Biografien auf ein Label. Deshalb plädiere ich für eine sorgfältige, kontextsensible Abwägung: Eine Diagnose sollte nur dann gestellt werden, wenn sie dem Individuum tatsächlich nützt – und nicht mehr schadet als hilft.
Um auf dein Beispiel mit dem Herdenschutzhund einzugehen: Entscheidend ist der Unterschied zwischen funktionalem Ursprung und urbanem Alltag. Ein Herdenschützer in Italien, der fremde Hunde abwehrt, bewegt sich in einem klaren sozialen Rahmen. Dort trifft er auf Artgenossen, die auf sein Verhalten mit Rückzug oder Beschwichtigung reagieren – das Verhalten ist eingebettet, nachvollziehbar und funktional - ein Überzeichnen des Verhaltens wird gar nicht erforderlich.
Ganz anders im Stadtpark: Hier trifft er auf Labradore, die gelernt haben, dass die Welt ein Spielplatz ist – distanzlos, kontaktfreudig, oft ohne soziale Bremsen. Für den Herdenschützer bedeutet das eine massive Grenzverletzung, auf die er aus seiner Perspektive folgerichtig reagiert. Was im Herkunftskontext sozial tragfähig ist, wirkt im neuen Umfeld plötzlich „auffällig“ - er überzeichnet und wird vielleicht sogar zunehmend massiver.
Die Frage ist also nicht: Ist das Verhalten krank? Sondern: Ist es funktional eingebettet?
Man könnte überspitzt sagen: Vielleicht ist nicht der Herdenschützer das Problem – sondern der Labrador, der keine Grenzen kennt. Oder besser: die Umwelt, die glaubt, dass alle sich wie der Labrador verhalten sollten.
Beide haben im jeweiligen Kontext ein erhebliches Problem:
Hier geht der Herdenschützer schlimmstenfalls langsam ein, wie eine Primel; in Italien wird der Labrador das erste Lebensjahr nicht erreichen.
Therapiere ich also den Herdenschützer, weil er konsequent auf Grenzverletzungen reagiert? Oder eher den Labrador, dem grundlegende soziale Rückmeldungen fehlen, weil man ihm beigebracht hat, dass jede Annäherung willkommen ist?
Der Punkt ist: Der Herdenschützer ist nicht krank – er ist funktional. Nur eben im falschen Film.
Sein Verhalten ergibt biologisch, historisch und sozial Sinn – solange es auf passende Rückmeldestrukturen trifft. Was fehlt, ist nicht Gesundheit, sondern Passung.
Therapie hieße in diesem Fall nicht: das Wesen des Hundes „anpassen“, sondern Bedingungen schaffen, in denen sein Verhalten lesbar, modulierbar und tragbar wird. Das kann bedeuten, dem Labrador Grenzen beizubringen – oder dem Herdenschützer Räume zu bieten, in denen er nicht permanent überfordert wird.
Anders gesagt: Wenn einer nicht schwimmen kann und der andere kein Wasser kennt – dann ist nicht zwingend einer krank. Man sollte nur aufpassen, wen man ins Becken wirft und wen man zum Therapeuten schickt.