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Jörg
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zuletzt 12. Juli

Aggression beim Hund.

Nur mal so für die Menschen die immer schreiben das es immer am Halter liegt wenn ein Hund Aggression zeigt. https://youtube.com/shorts/-ZKH5FgyxjE?si=-1TvRrOs3h6rjmCN Was sagt ihr dazu und welcher Meinung habt ihr zu dem Thema Agresion. Das ganze ist ein schwieriges Thema daher bitte bleibt freundlich.
 
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Dogorama-Mitglied
11. Juli 22:20
Ich hab pathologisch allerdings eben nicht isoliert oder als reine Normabweichung betrachtet, sondern gemeint, dass es auch erlernt oder anerzogen - also eingebettet in Lebenskontext und Lerngeschichte - sein kann und dass es eine nennenswerte Komponente von Beeinträchtigung/Belastung des Individuums oder seiner Umwelt beinhalten müsste.
Ich sehe auch keinen Widerspruch zwischen Nachvollziehbarkeit oder dem Erkennen eines (Sekundär)Nutzens und einer Einstufung als pathologisch.

Dafür bin ich etwas skeptisch, ob es für einen Hof- oder Herdenschutzhund funktional oder ressourcenschonend wäre, zB undifferenziert auf Artgenossen loszugehen, von denen keinerlei erkennbare Bedrohung ausgeht...

Ich sage keineswegs, dass etwas pathologisch ist, nur weil es nicht einer Norm entspricht.
Aber es ist auch nicht alles gesund, nur weil man eine Ursache oder einen kontextuellen Sinn nachvollziehen kann.
 
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Dogorama-Mitglied
11. Juli 22:32
Ich finde du bringst es gut auf den Punkt. In einem anderen Umfeld wäre Nero eigentlich perfekt in dem was er tut. Ganz intuitiv. Er wäre ein fantastischer Hofhund. Und auch noch einer, der einen Fremden, der sich versehentlich aufs Grundstück verirrt festsetzt und nicht verletzt. Ich muss hier auch ergänzen, dass Nero ja nicht per sé unverträglich ist. Er kann ganz wunderbar mit Hundefreunden und ist da sogar eher der Pantoffelheld, den man oft ein wenig verteidigen muss, weil er sich von seiner "inner group" schon sehr viel gefallen lässt. Daher ist meine ursprüngliche Vermutung er würde auf der Straße nicht lange überleben vielleicht sogar falsch. Denn auch da schließen sich Hunde zu sozialen Gruppen zusammen und als Teil davon wäre er möglicherweise auch ein wertvolles Mitglied, das die Gruppe verteidigt. Jetzt ist er aber leider kein Hofhund und muss als begleitender Gesellschaftshund funktionieren. Das bedeutet er muss gegensätzlich zu seinem intuitiven Verhalten agieren können. Und da fängt das Problem an. Fakt ist aber, dass er in der richtigen Beziehung zu seinem Menschen und mit abgesteckten Regeln und Grenzen (für deren Einhaltung aber die Beziehung ausschlaggebend ist) auch das kann.
Vielleicht hab ich das ja etwas falsch interpretiert, ich hatte das so verstanden, dass Nero sehr häufig auf Hunde losgeht, die ihn ihrerseits nicht im Mindesten bedrohen.

Das fände ich dann auch für einen Hofhund nicht wünschenswert, dass der über die Hunde entfernter Passanten herfällt.
 
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Dogorama-Mitglied
11. Juli 22:45
Ich bin nicht nur gerade ziemlich unglücklich damit, sondern von Anfang an 🙈. Nur hatte ich Anfangs noch sehr große Hoffnung, dass wir das durch Training gut in den Griff bekommen können. Durch bedürfnisorientiertes, kleinschrittiges Training durch positive Verstärkung. Jetzt nach zwei Jahren muss ich aber feststellen, dass das nicht klappt, vor allem wenn das Bedürfnis in der bedürfnisorientierten Erziehung nicht dem entspricht, was man immer glaubt. Ich habe ja auch lange geglaubt, er ist einfach zu erregt, zu unsicher, er kann einfach nicht anders oder ich biete ihm einfach noch nicht das Alternativerhalten, das für ihn wertvoller ist. Was macht man aber wenn man feststellt, er ist nicht zu erregt, er ist gar nicht unsicher, er entscheidet sich aktiv dazu und kein Angebot ändert seine Meinung, egal wie toll und spaßig es ist. Dann bleibt eigentlich nur "lass es, weil ich es sage". Und das erfodert eine Rollenverteilung und Beziehung mit der sich einschließlich mir sehr viele Leute unwohl zu fühlen scheinen. Vor allem weil sich diese Beziehung nicht auf eine Situation reduzieren lässt (zum Beispiel nur bei Hundebegegnungen), sondern 24/7 gelebt werden muss.
Da sehe ich garnicht, dass "Oberboss" 24/7 gelebt werden muss.
Man kann in vielen Bereichen kooperativ und verhandlungsbereit sein und trotzdem das letzte Wort haben wenn's darauf ankommt.

Die besten Lehrer und Pädagogen arbeiten genau so, lassen dort wo es möglich ist partnerschaftliche Beteiligungen zu und haben trotzdem die Autorität, wenn nötig Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen.

(Edit: hab gesehen, dass du das auch selbst relativiert hast)
 
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Dogorama-Mitglied
11. Juli 22:59
Ich glaube da kommt es ganz stark darauf an, ob man als Mensch seine Rolle (egal wie man sie nennt, aber eine klar definierte soziale Überordnnung) missbraucht oder wohlwollend einsetzt. Du kannst einen Hund, der nur auf Ansage agiert und reagiert maximal einschränken oder gerade weil er nur auf Ansage agiert und reagiert maximal Freiheit schenken. So hat Nero oberflächlich betrachtet bei mir mehr Entfaltungs- und Entscheidungsfreiheit. Was ihn aber in soziale Isolation und zum größten Teil Leinenhaltung verdonnert. Denn er entscheidet sich nicht gesellschaftskonform. Bei seiner Betreuerin hat er sehr viel weniger persönliche Entscheidungsfreiheit, kann aber sowohl mit anderen Artgenossen in Kontakt treten, als auch Freilauf genießen, weil sie es zwar unterbinden kann und er ihrer Ansage folgt, sie es ihm aber erlaubt, solange er sich gesellschaftskonform verhält. Und so wie ich das durch Dominiks Beiträge bewerten kann macht er es auch. Er hat die "Macht" über seine Hündin, missbraucht sie aber nicht, sondern ermöglicht ihr Freiraum, weil er die Kontrolle hat, die einige Hundecharaktete erfordern. Deswegen erwäge ich ja auch Nero abzugeben. Nicht weil ich ihn nicht mag, oder keine Lust mehr habe alles zu micromanagen und ihn an der Leine zu lassen, sondern weil ich sehe was er haben könnte und das ist das Leben, das ich mir für (m)einen Hund wünsche.
Das ist imho nicht die Art, wie gute Führungsqualität funktioniert.

Da geht es nicht darum, ein Lebewesen ewig lückenlos rumzubefehligen und halt netterweise ein paar Befehle einzustreuen, die dem Lebewesen auch mal Spass machen könnten, sondern darum, über Erziehung und Lehren eine Basis zu schaffen, auf der sich das Lebewesen irgendwann intrinsisch weitgehend sozial kompatibel und den Notwendigkeiten angemessen verhält und man nur mehr in Ausnahmesituationen konkret rumbefehligen muss.

(Edit: hab gesehen, dass du das auch selbst relativiert hast)
 
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Dogorama-Mitglied
11. Juli 23:04
Ich verstehe dein 24/7 Problem und da ist was wahres dran obwohl ich es ein kleines bisschen anders sehe. Weiter unten lass ich, der Hund sei angeblich gezüchtet um zu funktionieren. Ich persönlich und meine Familie möchten gar keinen Hund, der einfach nur funkt und zu 109% ferngesteuert ist. Du musst deinen Hund nicht von morgens bis abends bevormunden und rumkommandieren. Und du kannst durchaus gestatten, dass er nen eigenen Kopf hat und auch mal ohne Erlaubnis etwas tut. Das einzige was 24/7 gelebt werden muss ist die Konsequenz. In dem Moment, wo du ihm du keine Ansage machst, ist das in Ordnung. Wenn du allerdings nur Ansage machst dann muss die auch gelten und im Zweifel durchgesetzt werden. Das ist erzieherisch ein bisschen ein Eiertanz und auch anspruchsvoll. Wahrscheinlich ist es auch einfacher, wenn der Hund einfach GAR NICHTS darf, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Sowas wäre nicht mein Ding. Dabei würde ich va auch im eigenen Verhalten klar unterscheiden zwischen einer Phase des Trainings, wo bestimmte Dinge zu etablieren sind und dem, was anschließend im angestrebten Alltagsverhalten passiert. Das eine ist eben die Ausbildung in der darunter erstmal lernen muss und da sind andere Methoden gefragt und eventuell ist auch der Einsatz einer Hausleine mal sinnvoll für begrenzte Zeit. Außerdem eventuell ein paar kleine Tricks, im Alltag die dem Hund klar machen, dass er halt der Hund ist und du der Mensch. Und werden im Zweifel die Verantwortung trägt und bei Bedarf (!) sagt, wo es lang geht. Das klingt jetzt evtl härter als es gemeint ist, aber ich denke du erkennst den Punkt. Hast du mal in Erwägung gezogen, ein paar Privatstunden zu nehmen bei dir zu Hause und bei euren Gassiwegen? Am besten löst man solche Probleme ursächlich UND AN DEM ORT, wo sie entstehen. Das gibt es nicht geschenkt und mit nem 1000er musst du schon rechnen für ein 10er Ticket. Das kann Allerdings schon ausreichen und könnte dich um Quantensprünge vorwärts bringen, wenn der Trainer was taugt. Abgesehen von Hundetrainern gibt es übrigens auch Hundeverhaltenstherapeuten (Zusatzausbildung) , die auf genau sowas spezialisiert sind.
Da schau, da haben wir offenbar einen ziemlich ähnlichen Zugang zu dem Thema.

Ich find es immer wieder spannend, wie mir durch das Ausformulieren hier manche Sachen selbst erst klar werden...
 
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SandrA
12. Juli 07:01
Ich hab pathologisch allerdings eben nicht isoliert oder als reine Normabweichung betrachtet, sondern gemeint, dass es auch erlernt oder anerzogen - also eingebettet in Lebenskontext und Lerngeschichte - sein kann und dass es eine nennenswerte Komponente von Beeinträchtigung/Belastung des Individuums oder seiner Umwelt beinhalten müsste. Ich sehe auch keinen Widerspruch zwischen Nachvollziehbarkeit oder dem Erkennen eines (Sekundär)Nutzens und einer Einstufung als pathologisch. Dafür bin ich etwas skeptisch, ob es für einen Hof- oder Herdenschutzhund funktional oder ressourcenschonend wäre, zB undifferenziert auf Artgenossen loszugehen, von denen keinerlei erkennbare Bedrohung ausgeht... Ich sage keineswegs, dass etwas pathologisch ist, nur weil es nicht einer Norm entspricht. Aber es ist auch nicht alles gesund, nur weil man eine Ursache oder einen kontextuellen Sinn nachvollziehen kann.
Ich sehe keinen Widerspruch zu deiner differenzierten Sichtweise – im Gegenteil: Auch ich halte Kontext, Lerngeschichte und die Auswirkungen auf Individuum und Umwelt für entscheidend.
Allerdings plädiere ich für eine noch höhere Schwelle bei der Pathologisierung von Verhalten. Für mich reicht nicht allein die Betrachtung von Beeinträchtigung oder Auffälligkeit selbst: Erst die Zusammenschau mehrerer Kriterien – insbesondere erheblicher Leidensdruck + fehlende Modulierbarkeit trotz veränderter Bedingungen + der Verlust funktionaler Einbindung ins Lebensumfeld – dann erscheint mir eine pathologische Einordnung angemessen.

Mir ist wichtig, dass problematisches Verhalten nicht vorschnell als krankhaft etikettiert wird. Eine Diagnose kann zwar Klarheit schaffen und gezielte Unterstützung ermöglichen, birgt aber auch Risiken: Stigmatisierung, Engführung, die Reduktion individueller Biografien auf ein Label. Deshalb plädiere ich für eine sorgfältige, kontextsensible Abwägung: Eine Diagnose sollte nur dann gestellt werden, wenn sie dem Individuum tatsächlich nützt – und nicht mehr schadet als hilft.

Um auf dein Beispiel mit dem Herdenschutzhund einzugehen: Entscheidend ist der Unterschied zwischen funktionalem Ursprung und urbanem Alltag. Ein Herdenschützer in Italien, der fremde Hunde abwehrt, bewegt sich in einem klaren sozialen Rahmen. Dort trifft er auf Artgenossen, die auf sein Verhalten mit Rückzug oder Beschwichtigung reagieren – das Verhalten ist eingebettet, nachvollziehbar und funktional - ein Überzeichnen des Verhaltens wird gar nicht erforderlich.

Ganz anders im Stadtpark: Hier trifft er auf Labradore, die gelernt haben, dass die Welt ein Spielplatz ist – distanzlos, kontaktfreudig, oft ohne soziale Bremsen. Für den Herdenschützer bedeutet das eine massive Grenzverletzung, auf die er aus seiner Perspektive folgerichtig reagiert. Was im Herkunftskontext sozial tragfähig ist, wirkt im neuen Umfeld plötzlich „auffällig“ - er überzeichnet und wird vielleicht sogar zunehmend massiver.

Die Frage ist also nicht: Ist das Verhalten krank? Sondern: Ist es funktional eingebettet?
Man könnte überspitzt sagen: Vielleicht ist nicht der Herdenschützer das Problem – sondern der Labrador, der keine Grenzen kennt. Oder besser: die Umwelt, die glaubt, dass alle sich wie der Labrador verhalten sollten.
Beide haben im jeweiligen Kontext ein erhebliches Problem:
Hier geht der Herdenschützer schlimmstenfalls langsam ein, wie eine Primel; in Italien wird der Labrador das erste Lebensjahr nicht erreichen.

Therapiere ich also den Herdenschützer, weil er konsequent auf Grenzverletzungen reagiert? Oder eher den Labrador, dem grundlegende soziale Rückmeldungen fehlen, weil man ihm beigebracht hat, dass jede Annäherung willkommen ist?

Der Punkt ist: Der Herdenschützer ist nicht krank – er ist funktional. Nur eben im falschen Film.
Sein Verhalten ergibt biologisch, historisch und sozial Sinn – solange es auf passende Rückmeldestrukturen trifft. Was fehlt, ist nicht Gesundheit, sondern Passung.

Therapie hieße in diesem Fall nicht: das Wesen des Hundes „anpassen“, sondern Bedingungen schaffen, in denen sein Verhalten lesbar, modulierbar und tragbar wird. Das kann bedeuten, dem Labrador Grenzen beizubringen – oder dem Herdenschützer Räume zu bieten, in denen er nicht permanent überfordert wird.

Anders gesagt: Wenn einer nicht schwimmen kann und der andere kein Wasser kennt – dann ist nicht zwingend einer krank. Man sollte nur aufpassen, wen man ins Becken wirft und wen man zum Therapeuten schickt.
 
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Julia 🐾Nero
12. Juli 07:07
Da sehe ich garnicht, dass "Oberboss" 24/7 gelebt werden muss. Man kann in vielen Bereichen kooperativ und verhandlungsbereit sein und trotzdem das letzte Wort haben wenn's darauf ankommt. Die besten Lehrer und Pädagogen arbeiten genau so, lassen dort wo es möglich ist partnerschaftliche Beteiligungen zu und haben trotzdem die Autorität, wenn nötig Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. (Edit: hab gesehen, dass du das auch selbst relativiert hast)
Ja es ist wichtig das noch mal zu verdeutlichen, wenn meine Formulierung missverständlich war. Immerhin lesen auch oft Leute mit, die selber nicht noch mal hinterfragen.

Ich meinte explizit, dass die Beziehung 24/7 gelebt werden muss. Das lässt sich nicht auf ein isoliertes Problem anwenden. Entweder ich bin Entscheidungsträger und das muss erarbeitet werden oder ich bin es nicht, sondern vielleicht nur Ratgeber oder Umweltmanager.
Ich kann nicht von meinem Hund verlangen, dass er mich nur bei Hundebegegnungen als Entscheidungsträger akzeptiert und den Rest des Tages haben wir dann unsere gleichberechtigte Partnerschaft.

Bedeutet nicht konstant rumkommandieren, schikanieren und vorgeben, wann der Hund atmen und sich kratzen darf (draußen gibt es zum Beispiel ein Freigabesignal, was bedeutet "tu und lass was du willst, bis ich etwas anderes sage"). Aber die Position, vor allem in für den Hund sehr schwierigen Situationen, in der ein sehr großer Konflikt zwischen seinem und meinem Interesse besteht, muss ich inne haben oder ich habe sie nicht. Wenn ich sie nicht habe bedeutet mein "Nein" oder "Lass es" aber auch nicht "Nein", sondern "Hast du nicht lieber darauf Lust?" (oder Bitten, was ja viele Leute mit ihrem Hund machen und es besser finden) und akribisches Umweltmanagment.

Wir haben zum Beispiel ein Abbruchsignal nur hört Nero in bestimmten Situationen nicht darauf. Bei der Betreuerin schon. Es ist also kein Verständnis- oder Erregungsproblem. Ich hab sie natürlich gefragt woran das liegt und aus ihrer Sicht ist es sehr viel Beziehungsarbeit vor dem Abbruchsignal, in die sie investiert hat.

Vielleicht muss ich an der Stelle auch noch mal erwähnen, dass ich von Hunden mit gesellschaftlich inakzeptablen Aggressionsverhalten spreche, das nicht auf Angst, Überreizung oder gesundheitlichen Problemen beruht. Das darf man auch nicht vergessen.
In dem Fall mein Hund oder Dominiks Hündin, die wohl ähnlich gestrickt ist.
Also das ist keine allgemeingültige Auffassung vom Umgang mit Hund, sondern mit dem Umgang von solchen Ausreißern und wie man sie in die Gesellschaft integriert.
Im Idealfall ohne selbst auferlegte Leinenpflicht und soziale Isolation.

Vielleicht ist es aber jetzt auch wieder an der Zeit individuelle Fälle nicht weiter zu besprechen und eine allgemeine Diskussion zum Thema Aggression zu führen. Außer jemand möchte explizit seine Geschichte teilen, da scheinen hier alle offen dafür zu sein.
 
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Julia 🐾Nero
12. Juli 07:40
Vielleicht hab ich das ja etwas falsch interpretiert, ich hatte das so verstanden, dass Nero sehr häufig auf Hunde losgeht, die ihn ihrerseits nicht im Mindesten bedrohen. Das fände ich dann auch für einen Hofhund nicht wünschenswert, dass der über die Hunde entfernter Passanten herfällt.
Ja genau er hat schon Hunde attackiert, die ihn nicht einmal gesehen haben.

Interessanterweise ist er aber kein Zaun-Pöbler.
Ich kann mir das auch nicht ganz erklären, aber eine Barriere scheint er zu akzeptieren und was dahinter ist wird nicht angegangen.

Das war nämlich eine meiner größten Befürchtungen, als wir einen Garten zum Training gefunden haben.
Die ersten zwei Tage hat er die Leute auf dem Nachbarsgrundstück und auf dem Gehweg angebellt und danach nicht mehr.

Vor allem wenn jemand mit Hund vorbeigeht läuft er Richtung Zaun und bleibt aber einige Meter davor stehen und glotzt hinterher (bellen habe ich durch Down-Stay bestraft und Glotzen durch Wienerl verstärkt. Das kann aber nur geklappt haben, weil das Interesse wohl eh nicht so groß gewesen sein muss. Ich weiß, dass sowas bei anderen Hunden auch sehr viel Zeit und Training in Anspruch nehmen kann).

Da ich selber Zaun-Pöbler nicht ausstehen kann bin ich da echt froh, sonst würden wir den Garten nicht weiter nutzen.

Das macht das Mysterium Nero jetzt auch nicht verständlicher 😅.
Man könnte jetzt interpretieren, dass er territoriale Grenzen akzeptiert oder dass er einfach schlau genug ist und erkennt, dass er an die Hunde eh nicht rankommt.
Und bei offener Gartentür würde er vielleicht rausstürmen und angreifen. Wer weiß.
 
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Dogorama-Mitglied
12. Juli 07:54
Ich sehe keinen Widerspruch zu deiner differenzierten Sichtweise – im Gegenteil: Auch ich halte Kontext, Lerngeschichte und die Auswirkungen auf Individuum und Umwelt für entscheidend. Allerdings plädiere ich für eine noch höhere Schwelle bei der Pathologisierung von Verhalten. Für mich reicht nicht allein die Betrachtung von Beeinträchtigung oder Auffälligkeit selbst: Erst die Zusammenschau mehrerer Kriterien – insbesondere erheblicher Leidensdruck + fehlende Modulierbarkeit trotz veränderter Bedingungen + der Verlust funktionaler Einbindung ins Lebensumfeld – dann erscheint mir eine pathologische Einordnung angemessen. Mir ist wichtig, dass problematisches Verhalten nicht vorschnell als krankhaft etikettiert wird. Eine Diagnose kann zwar Klarheit schaffen und gezielte Unterstützung ermöglichen, birgt aber auch Risiken: Stigmatisierung, Engführung, die Reduktion individueller Biografien auf ein Label. Deshalb plädiere ich für eine sorgfältige, kontextsensible Abwägung: Eine Diagnose sollte nur dann gestellt werden, wenn sie dem Individuum tatsächlich nützt – und nicht mehr schadet als hilft. Um auf dein Beispiel mit dem Herdenschutzhund einzugehen: Entscheidend ist der Unterschied zwischen funktionalem Ursprung und urbanem Alltag. Ein Herdenschützer in Italien, der fremde Hunde abwehrt, bewegt sich in einem klaren sozialen Rahmen. Dort trifft er auf Artgenossen, die auf sein Verhalten mit Rückzug oder Beschwichtigung reagieren – das Verhalten ist eingebettet, nachvollziehbar und funktional - ein Überzeichnen des Verhaltens wird gar nicht erforderlich. Ganz anders im Stadtpark: Hier trifft er auf Labradore, die gelernt haben, dass die Welt ein Spielplatz ist – distanzlos, kontaktfreudig, oft ohne soziale Bremsen. Für den Herdenschützer bedeutet das eine massive Grenzverletzung, auf die er aus seiner Perspektive folgerichtig reagiert. Was im Herkunftskontext sozial tragfähig ist, wirkt im neuen Umfeld plötzlich „auffällig“ - er überzeichnet und wird vielleicht sogar zunehmend massiver. Die Frage ist also nicht: Ist das Verhalten krank? Sondern: Ist es funktional eingebettet? Man könnte überspitzt sagen: Vielleicht ist nicht der Herdenschützer das Problem – sondern der Labrador, der keine Grenzen kennt. Oder besser: die Umwelt, die glaubt, dass alle sich wie der Labrador verhalten sollten. Beide haben im jeweiligen Kontext ein erhebliches Problem: Hier geht der Herdenschützer schlimmstenfalls langsam ein, wie eine Primel; in Italien wird der Labrador das erste Lebensjahr nicht erreichen. Therapiere ich also den Herdenschützer, weil er konsequent auf Grenzverletzungen reagiert? Oder eher den Labrador, dem grundlegende soziale Rückmeldungen fehlen, weil man ihm beigebracht hat, dass jede Annäherung willkommen ist? Der Punkt ist: Der Herdenschützer ist nicht krank – er ist funktional. Nur eben im falschen Film. Sein Verhalten ergibt biologisch, historisch und sozial Sinn – solange es auf passende Rückmeldestrukturen trifft. Was fehlt, ist nicht Gesundheit, sondern Passung. Therapie hieße in diesem Fall nicht: das Wesen des Hundes „anpassen“, sondern Bedingungen schaffen, in denen sein Verhalten lesbar, modulierbar und tragbar wird. Das kann bedeuten, dem Labrador Grenzen beizubringen – oder dem Herdenschützer Räume zu bieten, in denen er nicht permanent überfordert wird. Anders gesagt: Wenn einer nicht schwimmen kann und der andere kein Wasser kennt – dann ist nicht zwingend einer krank. Man sollte nur aufpassen, wen man ins Becken wirft und wen man zum Therapeuten schickt.
Ja das sehe ich im Prinzip genauso und hab überhaupt nichts gegen systemische Betrachtungsweisen.

Ich meine nur, dass sich auch genau aus diesen Überforderungen, die uA ungeeigneten Lebensbedingungen oder Beschäftigungen entspringen, pathologische Verhalten oder auch körperliche Krankheiten entwickeln können.
ZB wenn ursprünglich bzw im richtigen Kontext sinnvolles Verhalten sich unter den falschen Voraussetzungen zu einer Stereotypie verfestigt.

Ob und in welchem Ausmass das der Fall ist, ist naturgemäss individuell zu prüfen und es bedeutet auch keineswegs, dass bei einer solchen Diagnose nur die Individuen gesehen/verurteilt ?/therapiert werden, sondern auch dann müssen die Systeme mit beachtet und krank machende Ursachen beseitigt werden.
Auch Diagnose und systemisches Verständnis können sehr gut Hand in Hand gehen.

Aber ich h denke, dass wir da im Prinzip eh wieder ziemlich das Gleiche meinen, mit leicht unterschiedlichen Blickwinkeln.
 
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Dogorama-Mitglied
12. Juli 08:00
Ja genau er hat schon Hunde attackiert, die ihn nicht einmal gesehen haben. Interessanterweise ist er aber kein Zaun-Pöbler. Ich kann mir das auch nicht ganz erklären, aber eine Barriere scheint er zu akzeptieren und was dahinter ist wird nicht angegangen. Das war nämlich eine meiner größten Befürchtungen, als wir einen Garten zum Training gefunden haben. Die ersten zwei Tage hat er die Leute auf dem Nachbarsgrundstück und auf dem Gehweg angebellt und danach nicht mehr. Vor allem wenn jemand mit Hund vorbeigeht läuft er Richtung Zaun und bleibt aber einige Meter davor stehen und glotzt hinterher (bellen habe ich durch Down-Stay bestraft und Glotzen durch Wienerl verstärkt. Das kann aber nur geklappt haben, weil das Interesse wohl eh nicht so groß gewesen sein muss. Ich weiß, dass sowas bei anderen Hunden auch sehr viel Zeit und Training in Anspruch nehmen kann). Da ich selber Zaun-Pöbler nicht ausstehen kann bin ich da echt froh, sonst würden wir den Garten nicht weiter nutzen. Das macht das Mysterium Nero jetzt auch nicht verständlicher 😅. Man könnte jetzt interpretieren, dass er territoriale Grenzen akzeptiert oder dass er einfach schlau genug ist und erkennt, dass er an die Hunde eh nicht rankommt. Und bei offener Gartentür würde er vielleicht rausstürmen und angreifen. Wer weiß.
Ich hab jetzt nicht am Plan, wie seine Vorgeschichte aussah, aber grundsätzlich wäre ja auch nicht auszuschließen, dass etwaige Vorbeitzer einem Hund sowas - absichtlich oder unabsichtlich - beigebracht haben.

Rein hypothetisch könnte irgendeine Deppensperson es lustig gefunden haben, ihn auf andere Hunde zu loszuschicken...